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Archiv-Artikel

Ein Monster als Modell

Das Heilige Römische Reich, das vor 200 Jahren unterging, lebt in der deutschen Kleinstaaterei auf fatale Weise fort. Doch für Europa könnte es ein Vorbild sein

VON RALPH BOLLMANN

Die Frage, wer schuld sei an der deutschen Krise, beantwortete der frühere Außenminister Joschka Fischer jüngst in zwei knappen Worten: „Die Kurfürsten.“ Wenn schon die deutschen Kaiser vergangener Jahrhunderte selbst mit kleinsten politischen Veränderungen am Widerstand von Provinzpotentaten scheiterten, wie sollte dann die heutige Kanzlerin Angela Merkel mit deren machtbewussten Nachfolgern Edmund Stoiber, Christian Wulff oder Roland Koch fertig werden?

Wer wissen will, warum in Deutschland noch jede Föderalismusreform gescheitert ist, kommt dieser Tage um ein Jubiläum nicht herum: Am morgigen Sonntag sind genau 200 Jahre vergangen, seit das Heilige Römische Reich Deutscher Nation untergegangen ist – jener „irreguläre und einem Monstrum ähnliche Körper“, so der Jurist Samuel Pufendorf schon im 17. Jahrhundert, auf den die Tradition der deutschen Kleinstaaterei zurückzuführen ist.

Das „Alte Reich“, wie die Historiker sagen, bestand aus Hunderten größtenteils kleiner und kleinster Herrschaftsgebiete, die selbst heutige Zwergstaaten wie Bremen oder das Saarland geradezu als Großmächte erscheinen lassen. Als freie Reichsstädte genossen nicht nur große und mächtige Gemeinwesen wie Nürnberg, Augsburg oder Frankfurt am Main nahezu vollständige Autonomie, sondern auch Provinzstädte wie Dinkelsbühl, Ravensburg oder Weil der Stadt. Selbst manch ein kleiner Weiler musste als „Reichsdorf“ keinen Herrn über sich dulden als den Kaiser.

Auf der anderen Seite des Machtspektrums standen die beiden einflussreichsten Gliedstaaten, die als einzige im Konzert der europäischen Großmächte mitspielten: Österreich und Preußen. Um das Gesamtinteresse des Reichs scherte sich vor allem Preußen so wenig wie heute etwa der Freistaat Bayern.

Vor der Folie des machtbewussten und zentralisierten Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert, der mit seinen Beamten bis ins letzte Dorf hineinregierte, erschien das Reich lange Zeit als antiquiert. Doch haben die Historiker in den vergangenen Jahrzehnten erkannt, dass womöglich nicht der Nationalstaat der historische Normalfall ist, sondern gerade die sorgfältig austarierten Formen politischer Herrschaft, wie sie im Heiligen Römischen Reich praktiziert wurden. Mehr noch: Dass gerade dieses Reich in seiner Vielfalt für die Gegenwart sogar ein Vorbild sein könnte, etwa für die künftige Struktur der Europäischen Union. Für Friedrich Schiller war der Westfälische Friede von 1648, eines der Grunddokumente der Reichsverfassung, „das interessanteste und charaktervollste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft“.

Zwar blieben alle Versuche, im Rahmen einer umfassenden „Reichsreform“ zu einer einheitlichen Reichsverfassung zu gelangen, bis 1806 ebenso erfolglos wie heute die Bemühungen um einen europäischen Verfassungsvertrag oder eine deutsche Föderalismusreform. Trotzdem blieb der Reichsverband in der Praxis funktionsfähig – und zwar, auch dies eine Parallele zu heutigen Verhältnissen, vor allen durch Rechtsnormen und Rechtsprechung. Das zuletzt in Wetzlar angesiedelte Reichskammergericht gilt als die am besten funktionierende Institution des Alten Reichs.

Alternativ konnten sich Rechtssuchende auch an den Wiener Reichshofrat wenden, der zwar vom Kaiser abhängig, dafür aber schneller und effizienter war. Auch heute dürfte nicht jedem Europäer der Unterschied zwischen den beiden Gerichtshöfen geläufig sein, die von der Europäischen Union in Luxemburg und vom Europarat in Straßburg betrieben werden. In beiden Fällen aber schützt, wie schon im Alten Reich, der Gesamtverband das Individuum vor allzu dreisten Übergriffen des Einzelstaats.

Dass die Interessen der einzelnen Bestandteile in einem so heterogenen Gemeinwesen nicht von einem Parlament austariert werden können, das in allgemeiner, gleicher und direkter Wahl zustande kommt, das versteht sich fast von selbst. So entsprach die Verfahrensweise auf dem Immerwährenden Reichstag, der seit 1663 in Regensburg tagte, eher den Regularien im EU-Ministerrat. Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädte traten zu jeweils gesonderten Beratungen zusammen, die eigentlichen Entscheidungen fielen eher im Hinterzimmer als auf der offenen Bühne von Plenarsitzungen.

Kultiviert wurde in solch einem politischen System vor allem die Kunst des Nichtentscheidens. Das galt nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges freilich ebenso als zivilisatorische Errungenschaft wie im europäischen Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg. Solange auf der Bühne des Reichstags noch verhandelt wurde, gab es um die strittigen Fragen wenigstens keinen Krieg. An die fein austarierten Kompromisse vor allem in Glaubensfragen traute sich ohnehin niemand heran – ob es nun im sächsischen Bautzen die simultane Nutzung der Hauptkirche durch Katholiken und Lutheraner war oder die kuriose Regelung im Fürstbistum Osnabrück, wo katholische und protestantische Bischöfe in stetem Wechsel regierten.

Am strittigsten blieb, ganz ähnlich wie heute in Brüssel, die gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik. Hätte das Reich einen vom Kaiser unabhängigen Diplomatiebeauftragten gehabt – er hätte aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen wohl eine ebenso traurige Figur abgegeben wie heute der Spanier Javier Solana.

Ganz ähnlich dem „Kampf gegen den Terror“ in der Gegenwart galt im 17. Jahrhundert der Kampf gegen die „Türkengefahr“ den Kaisern als wohlfeiles Argument, um bei den Reichsständen Steuern und Truppenkontingente einzusammeln. Das funktionierte allenfalls in Momente einer akuten Gefahr, etwa bei der Belagerung Wiens 1683. Ansonsten beobachteten die übrigen Reichsfürsten eher mit Argwohn, wie der Kaiser mit Hilfe der Türkenkriege seine eigene Hausmacht im Osten stetig vergrößerte. Eine homogene Wehrverfassung des Reichs kam deshalb so wenig zustande wie eine einheitliche Finanzverfassung.

Es blieb bei einer Verfassungsstruktur, die in der Praxis höchst unterschiedliche Formen der Integration vorsah. Norditalien war aus dem Reichsverband de facto längst ausgeschieden, die Republik der Vereinigten Niederlande und die Schweizer Eidgenossenschaft verließen ihn nach dem Dreißigjährigen Krieg auch de jure. Preußen und Österreich spielten im Reich zwar eine wichtige Rolle, regierten aber gleichzeitig große Gebiete, die dem Reichsverband nicht angehörten.

Größere Territorien wie Sachsen oder Bayern spielten ebenfalls eine zunehmend unabhängige Rolle, während die kleineren Stände auf den Reichsverband wie auf den Schutz des Kaisers angewiesen blieben – ganz ähnlich, wie heute Luxemburg als Integrationsmotor fungiert. Als besonders reichstreu erwiesen sich die nicht „armierten“ Stände, die über keine eigene Armee verfügten. Funktionsfähig konnte der Reichsverband aber nur bleiben, weil die Großen am Ende erkannten, dass auch sie von einem Mindestmaß an Integration profitieren konnten.

Funktionieren konnte das allerdings nur, weil die mächtigeren Reichsfürsten innerhalb ihrer eigenen Territorien zunehmend Formen moderner Staatlichkeit etablierten und den innerstaatlichen Föderalismus zugunsten einer zunehmenden Zentralisierung zurückdrängten. So konnten österreichische Adelige wie die Familien der Windischgrätz, Schwarzenberg oder Lobkowicz im barocken Wien glanzvoll repräsentieren und am habsburgischen Hof einflussreiche Positionen übernehmen. Das änderte aber nichts daran, dass die regionalen Besonderheiten innerhalb der österreichischen Erblande stetig zurückgedrängt wurden.

So zeigt sich auch heute, dass ein doppelter Föderalismus – auf EU-Ebene wie innerhalb Deutschlands – kaum funktionieren kann. Durch den europäischen Einigungsprozess werden die deutschen Bundesländer, wie man im Alten Reich gesagt hätte, „mediatisiert“. Dass sie sich aufwändige Vertretungen in Brüssel bauen und versuchen, an der Berliner Regierung vorbei eine Neben-Europapolitik zu betreiben, gefährdet auf lange Sicht die Funktionsfähigkeit des Systems. Das ist ganz so, als hätten sich landsässige Grafen an ihrem Territorialherrn vorbei auf den Regensburger Reichstag oder an den Wiener Hof gedrängt – eine Vorstellung, die selbst in einem so komplexen System wie dem Alten Reich als vollständig irreal erschienen wäre.

Die Kurfürsten von heute sitzen in Berlin oder Paris, die Reichsdörfer des 21. Jahrhunderts sind Malta oder Luxemburg. Für Stoiber, Koch und Wulff ist in einem solchen System kein Platz.

RALPH BOLLMANN, 37, leitet das Inlandsressort der taz