: Ziemlich unterschätztes Kraut
Cannabis ist in Berlin allgegenwärtig, besonders Jugendliche fangen immer früher an zu kiffen. Die minderjährigen Kiffer machen den Mitarbeitern in der Drogenberatung große Sorgen, auch weil der Stoff immer härter wird und statt zum chillig-lässigen Genuss zur Problemlösung missbraucht wird
VON NINA APIN
Wenn sich Karl Hoffmann (Name geändert) an seine Studienzeit erinnert, denkt er an seine Fünfer-WG in Kreuzberg und die gemeinsamen Abende im Wohnzimmer. Nach Spaghetti und Salat machte stets ein Joint die Runde, ein Gemeinschaftsritual, an das sich der 56-jährige Rechtsanwalt auch heute noch gern erinnert. „Kiffen gehört dazu, wenn man jung ist“, findet er. Seit einigen Jahren bevorzugt Karl Hoffmann selbst Rotwein, doch zu besonderen Gelegenheiten zündet er sich gern auch heute noch einen an – der alten Zeiten wegen. Dass Haschisch und Marihuana illegal sind, findet der Rechtsanwalt lächerlich, auch wenn er das lieber nicht öffentlich sagt. „Das Zeug ist harmloser als Alkohol, und mir hat es auch nicht geschadet, hin und wieder einen zu rauchen“.
Mit Männern wie Karl Hoffmann ist die ehemalige Revoluzzer-Droge Cannabis in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nicht nur Aussteiger, Studenten und jugendliche Rebellen kiffen, auch Rechtsanwälte und Ärzte tun es oder hegen heimliche Sympathie dafür.
„Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Cannabis hat sich seit den frühen 80er-Jahren grundlegend gewandelt“, bestätigt Ottmar Hummel, Kinder- und Jugendpsychiater im Sankt-Josephs-Krankenhaus in Tempelhof. „Statt einer illegalen Droge sehen viele darin einen Mythos aus Freiheit und jugendlichem Aufbegehren.“
Verklärte Jugenderinnerungen versperrten nach Hummels Ansicht allzu vielen, die heute über 45 sind, den Blick auf die Realität. „Droge und Konsumgewohnheiten haben sich dramatisch geändert“, beobachtet der Psychiater. Das Hauptproblem ist das dramatisch gesunkene Einstiegsalter: Die Erstkonsumenten werden immer jünger.
Laut einer Schülerbefragung von 2003 haben 33,9 Prozent aller 15-, 16-jährigen Berliner schon einmal Cannabis konsumiert, das liegt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Cannabis sei an Berliner Schulhöfen oft leichter zu bekommen als Zigaretten, bestätigt Ottmar Hummel. „Bei 13-, 14-jährigen gehören Joint und Bier zur Grundausstattung beim Chillen.“ Aber nicht alle kommen mit diesen Erfahrungen klar: „Der ambulante Beratungsbedarf wächst.“ Unter den Jugendlichen, die immer zahlreicher in Hummels Cannabis-Sprechstunde kommen, sind 12-Jährige, die alleine kiffen, und Gymnasiasten, die schon morgens vor der Schule die erste Bong rauchen. Die Folgen sind Konzentrationsstörungen, Leistungsabfall, bis hin zu schweren sozialen Entwicklungsstörungen. Etwa 100 Cannabis-Patienten behandelt Ottmar Hummel pro Jahr stationär, 40 davon leiden unter schweren schizophrenen Psychosen oder Depressionen. Das liegt auch daran, dass heute gebräuchliche Grassorten vier- bis fünfmal so viel des psychoaktiven Wirkstoffs Tetrahydrocannabinol (THC) aufweisen wie in den Siebzigern.
Verteufeln will der Psychiater, der auch Patienten mit Opiatsucht behandelt, das Kraut aber nicht. „Erwachsene sollen von mir aus ruhig kiffen, für mich ist nicht die Legalisierung, sondern das Einstiegsalter entscheidend.“
„Je früher jemand anfängt zu kiffen, desto größer sind die Risiken“, sagt auch Christine Köhler-Azara, Berlins kommissarische Drogenbeauftragte. „Bei 12-, 13-jährigen Jugendlichen kann der regelmäßige Cannabiskonsum Psyche und Persönlichkeit desorganisieren.“
In die Beratungsstellen strömen überforderte Eltern mit sozial gestörten oder psychotischen Kindern. Leider kämen Eltern oft erst, wenn es fast zu spät sei, vielleicht, weil viele in der Jugend selbst kifften und die Gefahr der Droge unterschätzen. Auf die wachsende Zahl sehr junger Cannabiskonsumenten habe Berlin mittlerweile mit einem breiten Angebot an Aufklärungs- , Informations- und Beratungsstellen reagiert.
Broschüren wie „Cannabis denn Sünde sein?“ oder Online-Tests sollen den Kiffernachwuchs darüber aufklären, worin der Unterschied zwischen der gelegentlichen Wochenend-Tüte und einem problematischen Suchtverhalten liegt. Überdramatisieren sollte man das Cannabisproblem nicht, empfiehlt Köhler-Azara, „nur etwa fünf Prozent der kiffenden Jugendlichen entwickeln große Probleme“.
Für die Jugendlichen mit Kifferproblemen gibt es den Therapieladen in Schöneberg – die bundesweit einzige Beratungseinrichtung, die nur auf Cannabissucht spezialisiert ist. Seit 20 Jahren werden dort Jugendliche und Erwachsene in Einzel-, Gruppen- und Familientherapie vom Gras entwöhnt. Auch in dieser Einrichtung hat man nichts gegen den moderaten Konsum erwachsener Menschen, wie ihn Karl Hoffmann und seine Kommilitonen damals in seiner WG-Küche praktizierten.
Als Genussmittel eingesetzt, wirkt das THC-haltige Kraut entspannend. Lethargisch, asozial und dumm macht es nur, wenn es als Problemlöser missbraucht wird. „Mündiges Kiffen“ nennt das Karl Hoffmann. Und aus ihm ist immerhin ein erfolgreicher Anwalt geworden.