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Archiv-Artikel

Prügelei oder politischer Mordversuch?

Fünf PotsdamerInnen aus der linken Szene sollen einen Nazi zusammengeschlagen haben. Heute beginnt der Prozess

BERLIN taz ■ Das vergangene Jahr hat für Julia S. einige Überraschungen mit sich gebracht. Statt in den Sommerferien eine Jugendreise zu betreuen, wanderte die Mitarbeiterin eines alternativen Potsdamer Jugendzentrums erst mal ins Gefängnis. Versuchter Mord, lautete der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Die 22-Jährige soll gemeinsam mit vier anderen jungen Leuten auf einen stadtbekannten Neonazi losgegangen sein. Fünf Monate saß die junge Frau in Untersuchungshaft.

Heute nun beginnt vor dem Potsdamer Landgericht der Prozess gegen Julia S. und vier Mitangeklagte – Isabelle K., 17 Jahre, sowie Arend L., Robert D. und Patrick B., alle 21 Jahre alt. Das Verfahren wird seit Monaten mit Spannung erwartet. Denn die Inhaftierung der bis dahin unbescholtenen jungen Frau geriet in der brandenburgischen Landeshauptstadt im vergangenen Herbst zum Politikum. Namhafte Potsdamer – vom Landesvorsitzenden der Grünen bis zum Dekan der Hochschule für Film und Fernsehen – wandten sich in einem offenen Brief gegen den ihrer Ansicht nach überzogenen Kurs der Staatsanwaltschaft, linke Lokalpolitiker verwahrten sich gegen den Vorwurf einer „Gewaltspirale“ zwischen rechten und linken Jugendlichen in der Stadt.

Seit Jahren hatte es in der Stadt keinen Zweifel an der Rollenverteilung gegeben: Rechtsextreme schlugen zu, linke Jugendliche gehörten zu den bevorzugten Opfern. Und nun war es umgekehrt?

Der Prozess könnte für einige Überraschungen gut sein. Das Landgericht hat die Anklage der Staatsanwaltschaft nicht im vollen Umfang zugelassen. Es lehnte den Vorwurf des versuchten Mordes ab, geht stattdessen nur von einer gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung aus.

Was sich genau in der Nacht zum 19. Juni 2005 in der Potsdamer Fußgängerzone nur einige Schritte entfernt vom Landgericht zutrug, ist bisher umstritten. Laut Staatsanwaltschaft sollen die fünf Jugendlichen aus der linken Szene den 16 Jahre alten Rechtsextremen Benjamin Ö. verfolgt, zu Boden gestoßen und anschließend „aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses“ mit einem Teleskopschlagstock mindestens zweimal geschlagen haben. Gleichzeitig sei auf Ö. eingetreten worden. Erst als ein Bediensteter eines Straßencafés einschritt, hätten sie von dem Jugendlichen abgelassen und seien geflüchtet. Benjamin Ö. trug eine vier Zentimeter lange Platzwunde am Kopf und Schürfwunden davon.

Glaubt man dem Strafverteidiger Sven Lindemann, der den 21 Jahre alten Angeklagten Patrick B. vertritt, dann sind die Beweise für die Tat indes dünn und die Zeugenaussagen teilweise widersprüchlich. Er hoffe deshalb auf einige Freisprüche, sagte Lindemann der taz.

Die Angeklagte Julia S. hat in Potsdam selbst schon einmal vor Gericht gestanden, allerdings als Zeugin. Sie sagte wenige Monate vor ihrer Inhaftierung gegen örtliche Neonazis aus. Diese hatten zu Silvester 2002 einen Brandanschlag auf das von Julia S. mitbegründete Jugendzentrum Chamäleon verübt, wo die junge Frau seit Jahren mit Mitstreitern lebt. Während des Prozesses versuchten Neonazis aus Berlin und Potsdam Julia S. und andere Zeugen einzuschüchtern. Sie sollen sogar nachts vor dem Jugendzentrum aufgekreuzt sein.

Damals trat als Strafverteidiger eines der Angeklagten der Berliner Anwalt Wolfgang Narath auf, Exvorsitzender der inzwischen verbotenen rechtsextremen Wiking-Jugend und seit Jahren einer der prominenten Neonazi-Verteidiger der Republik. Im Verfahren gegen Julia S. will er in eine ungewohnte Rolle schlüpfen: Als Opferanwalt vertritt er die Interessen des verprügelten Benjamin Ö.

ASTRID GEISLER