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Archiv-Artikel

„Ein Buch wirkt nicht wie eine Pille“

KINDERBÜCHER In Oldenburg wird die Poetik der Kinder-und Jugendliteratur erforscht. Mareile Oetken über pädagogische Ansprüche an Kinderbücher und die Vermischung von Jugend- und Erwachsenenliteratur

Mareile Oetken

■ 52, Buchhändlerin, Studium der Germanistik und Kunstwissenschaft, Promotion 2007 in Kunstwissenschaft zu Bilderbüchern der 1990er-Jahre. Seit 2007 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Koordinatorin für Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft.

INTERVIEW JENS FISCHER

taz: Frau Oetken, „Poetik-Professur“ klingt gewichtig, dabei ist es sich nicht mal eine ordentliche Dozentur. Wäre der Titel „Vortragsreihe“ ehrlicher?

Mareile Oetken: Die Poetik-Professur ist mehr. Sie bietet Vorträge an der Schnittstelle zur Vorlesung. Wir bereiten sie in Seminaren mit Studenten vor. Und das Vorgetragene wird in Buchform publiziert.

Was haben die Studenten davon?

Zum Beispiel Alexa Hennig von Lange besuchte am Tag nach ihrer Vorlesung noch Seminare zum direkten Austausch mit den Studenten, wir konnten sie mit einbinden in unsere damalige Auseinandersetzung mit Erzählformen und -perspektiven im Adoleszenzroman.

In diesem Jahr ist die Berlinerin Anja Tuckermann an zwei Tagen Poetik-Professorin in Oldenburg. Was prädestiniert sie?

Diese Kunst, Geschichten über Geschichte zu schreiben. Anja Tuckermann hat mit Zeitzeugen gearbeitet aus dem Zweiten Weltkrieg, mit Sinti und Roma, Vietnamesen und Türken in Deutschland – und aus dem Material der Gespräche Romane entwickelt. Mich interessiert ihre Poetik: Wie funktioniert das Schreiben an der Schnittstelle zwischen Fakten und Fiktionalität, zwischen aktueller Anbindung und historischer Schilderung, zwischen Zeitzeugenschaft und individueller Betroffenheit?

Entwickelt sich im Laufe der Jahre eine normative Poetik – oder eine Ansammlung subjektiver Perspektiven?

Erstaunlich erst mal, dass bei Kinder- und Jugendbuchautoren das Reflektieren der eigenen Poetik und der eigenen Position auf dem Buchmarkt viel weniger verbreitet ist als im allgemeinen Belletristik-Bereich.

Warum?

Gucken Sie sich Die Zeit an, die hat die Kinder- und Jugendliteratur aus ihrem Feuilleton rausgeschmissen – und auf eine Kinderseite verbannt. Da gibt es nur noch Empfehlungslisten mit Buchtiteln. Ein Diskurs, ein Reflektieren über die Poetik findet nicht mehr statt. Auch in anderen Medien gibt es fast nie kritische Besprechungen.

Wobei man aus missglückten Versuchen manchmal viel mehr lernen kann?

Bestimmt. Aber der differenzierte literarische Blick steht eben bei Kinder- und Jugendbüchern nicht im Zentrum, es geht immer sehr stark um pädagogische Erwartungen an die Bücher: der ewige Spagat zwischen Poetik und Didaktik.

Was erkennt man mit dem literarischen Blick?

Vielfach sind die Schriftsteller heute auch Moderatoren, Drehbuchautoren, Übersetzer. All das und auch die ihre medialen Erfahrungen spiegeln sich in Erzählformen – bis hin zum Verweben von Comic, Drama und Roman in Anthony McCartens „Superhero“. Eine aktuelle Entwicklung ist, dass Jugendbücher nicht mehr explizit an Jugendliche adressiert sind. Viele Autoren veröffentlichen in allgemein belletristischen Verlagen. Wolfgang Herndorfs „Tschick“ erschien dort und bekam den Deutschen Jugendliteraturpreis …

und den Clemens-Brentano- und den Hans-Fallada-Preis. Gibt es die Gattung Jugendbücher gar nicht mehr?

In der dritten Studie Kinder- und Jugendbücher 2013 steht, dass der Jugendbuchbegriff alles umfasst von Werken für Zehnjährige bis zum All-Age-Titel. Das hat auch damit zu tun, dass das Aufwachsen von Jugendlichen heute so heterogen ist und die Erfahrungen mit Literatur so weit auseinander gehen.

Oder sind die Erwachsenen infantiler geworden?

Vielleicht – dazu sagt die Studie, dass ein Viertel der Jugendliteratur von 40- bis 49-Jährigen für sich selbst gekauft wird.

Welche Bedeutung hat Literatur in der Multimediagesellschaft?

Es geht darum, die neuen Medien als Chance zu nutzen. Auch Jugendbücher erscheinen teilweise in Verbünden – mit einer TV-Serie, einem Hör- oder Computerspiel. Das hat großes didaktisches Potenzial: Mit der Medienkompetenz lässt sich auch Literaturkompetenz entwickeln.

Also boomt der Kinder- und Jugendbuchmarkt weiter?

Ja. Auch die Debatte um E-Books bedeutet ja nicht, dass in zehn Jahren nur noch Dateien verkauft werden, das gedruckte Buch bleibt Bestseller.

Nach dem Pisa-Schock wurden Bücher geradezu messianisch verehrt als Medium für Bildung, soziale Kompetenz, Integration.

Man kann ein Buch nicht wie eine Pille verordnen. Die Literatur ist keine Arznei für ein bestimmtes Problem. Kinder- und Jugendbücher sind Literatur und damit Kunst, die Aussagen über das Leben trifft, die meine Perspektiven als Leser erweitern können. Das birgt Chancen, nicht medizinisch, sondern künstlerisch betrachtet. Gerade in bildungsfernen Familien kann Literatur den Horizont erweitern, wenn sie relevante Aussagen bereithält und die Jugendlichen ihre Lebensrealität darin wiederfinden.

Was ist denn eine prima Einstiegsdroge für Lese-Einsteiger?

Wichtig ist, möglichst ganz früh die Kinder mit Literatur und ihren Möglichkeiten konfrontieren. Für die ganz Kleinen empfehle ich Nadia Buddes Pappbilderbuch „Eins zwei drei Tier“, das nicht Realität abbildet, sondern mit Reim und Rhythmus sprachspielt. Für die Größeren bietet sich Sarah Crossans „Die Sprache des Wassers“ an, ein Versroman, die Migrationsgeschichte eines 14-jährigen Mädchens, das vom Zurechtfinden in der Fremde erzählt, von der kaputten Ehe der Eltern, ihrer eigenen ersten Verliebtheit, dem Alkoholismus der Mutter, einer mobbenden Mädchenclique – und dabei wird Lust auf Sprache geweckt.

Poetik-Professur 2014: Öffentliche Vorlesung von Anja Tuckermann: 8. und 22. Mai, 18.15 bis 19.45 Uhr, BIS-Saal der Uni Oldenburg