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Archiv-Artikel

Piazza Italia ohne Vespas

Ein Besuch bei den Italienern in Wolfsburg zeigt, dass Kommunikationsprobleme vielleicht niemals überwunden werden können. Dank bester Integration muss man sich deswegen aber heute nicht mehr streiten

Etwa 1.400 Italiener arbeiten heute bei VW, vertreten von der Fließbandarbeit bis ins Management

aus WolfsburgJessica Riccò

Autostadt Wolfsburg, Ende Juli, absurd hohe Temperaturen. Ein Seniorenheim neigt sich dem Feierabend zu. Während die Deutschen sich bei gefühlten 60 Grad widerstandslos ins Bett bringen lassen, streiken ihre italienischen Mitbewohner. Bei solcher Bullenhitze sei vor elf nicht an Schlaf zu denken e basta.

Für Fälle wie diesen hatte die Stadt bereits vor Monaten Fortbildungen für das Pflegepersonal angeboten. „Interkulturelle Konflikte treten im Alter stärker auf“, erklärt Konrad Schmidt-Ott vom Ausländerreferat. Und mit 5.600 Italienern bietet Wolfsburg dafür viel Potenzial.

Die Geschichte der Italiener in Wolfsburg begann bereits 1938. Damals hieß Wolfsburg noch „Stadt des KdF-Wagens“, und italienische Maurer und Dachdecker wurden ins Land geholt, um eben diese Kraft-durch-Freude-Autos zu bauen. Mit Kriegsbeginn wurden die „Fremdarbeiter“ zwar wieder in ihre Heimat geschickt, aber man behielt sie zumindest beruflich in guter Erinnerung. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wurden erneut Italiener zum Autobau verpflichtet: 1943 als Zwangsarbeiter.

Zwanzig Jahre später hieß KdF-Stadt schließlich Wolfsburg und aus dem gleichnamigen Wagen hatte sich der VW-Käfer entwickelt. Erneut mangelte es an Arbeitskräften. Heinrich Nordhoff, damaliger Vorstandsvorsitzender bei VW, nutzte sein freundschaftliches Verhältnis zu Papst Pius XII., um die Beschaffung arbeitswilliger Männer zu beschleunigen. Zwar widersprach es der familienfreundlichen Politik des Papstes, Männer von ihren Familien zu trennen, doch noch im selben Jahr begannen 3.000 Italiener des katholischen Arbeiterverbandes ACLI ihre Arbeit in Wolfsburg.

Rocco Artale ist als Ratsherr im Stadtrat ein Vorzeige–Italiener. Um den Hals trägt er ein Schlüsselband von Volkswagen und sein Silikonarmbändchen propagiert „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“. Das kann man nun als Zeichen der Integration sehen oder aber als völlige Lossagung vom italienischen Modebewusstsein.

Die Auswanderung von Rocco Artale ist aber auch schon 45 Jahre her. Damals, kaum volljährig, war er einer der ersten Italiener bei VW. Einer der ersten, die bei der nächtlichen Ankunft in Wolfsburg feststellen mussten, dass von nun an in einer von 50 Holzbaracken vor der Stadt gewohnt wird. Dass man jetzt drei Mitbewohner auf 20 Quadratmetern hat. Auch die Schichtarbeit im Werk war für viele Italiener ein Kulturschock. Nicht nur war der Tagesrhythmus im Süden ein anderer, auch die Enge der Unterkunft war ein Problem, an ungestörten Schlaf war nicht zu denken.

Kurz nach ihrer Ankunft wurden Rocco Artale und seine Kollegen in den Baracken an der „Berliner Brücke“ eingezäunt. Angeblich, um sie vor fliegenden Händlern und Prostituierten zu schützen. Wer vor wem geschützt werden sollte, blieb Rocco Artale jedoch ein Rätsel. Die Deutschen schienen zumindest nicht begeistert über ihre neuen Nachbarn aus dem Ausland.

Damals, ja, da habe es schon Misstrauen gegeben, auf beiden Seiten. Und kulturelle Unterschiede natürlich. Rocco Artale erinnert sich an eine der ersten Begegnungen mit dem anderen Geschlecht in Wolfsburg. Aus Italien kamen schließlich Heerscharen junger, meist unverheirateter Italiener. Dazu noch von Gesundheit strotzend, sie waren schließlich nach Tauglichkeit für schwere körperliche Arbeit gefiltert. Wie in Italien bereits in den sechziger Jahren üblich, pfiff Artale einer jungen Wolfsburgerin hinterher. Die Auserwählte wusste mit Pfeifen nichts anzufangen, sandte aber ihren Bruder zur Erläuterung dieser exotischen Geste. Mit Händen und Füßen erklärte Rocco Artale, dass Hinterherpfeifen keine Beleidigung sei, im Gegenteil. „Kloppe gab es dann trotzdem“, erinnert sich Herr Artale. Die Wolfsburger waren darauf bedacht, ihren Genpool zu verteidigen.

Auch bei VW war ein neues Hierarchiegefälle zu spüren: Während die Italiener als Ungelernte die Arbeiterklasse stellten, waren deutsche Arbeiter in denselben Positionen „VW-Werker“ – und standen damit weit über dem Einkommen ihre italienischen Kollegen. Nicht alle Italiener ließen sich die Ausgrenzung gefallen. Viele kehrten nach einem Jahr in ihre Heimat zurück, manche bereits wenige Tage nach ihrer Ankunft in Wolfsburg.

Mit dem Anwerbestop 1974 begann für die Italiener die eigentliche Integration: Wer bis jetzt nicht zurückgekehrt war, blieb in Deutschland. Und endlich kamen auch Ehefrauen und Kinder hinterher. An die Unterbringung in weiteren Holzbaracken war nicht zu denken, die Familien wurden systematisch auf die gesamte Stadt verteilt, um ein Wolfsburger Little Italy zu vermeiden.

Die zweite Generation der italienischen Wolfsburger fiel dennoch in ein Loch der Integrationspolitik. Schüler von 14 Jahren wurden in die erste Klasse geschickt, um Deutsch zu lernen, Firmen stellten keine ungelernten Arbeiter mehr ein, und für Frauen blieben oft nur Arbeiten als Reinigungskräfte. Die Zahl der italienischen Sonder- und Hauptschüler lag doppelt so hoch wie in der deutschen Bevölkerung.

Nicht zuletzt um diese bildungspolitische Benachteiligung der Migranten zu beenden, wurde 1993 die erste deutsch-italienische Grundschule ins Leben gerufen. Damit war Wolfsburg Vorreiter in der zweisprachigen Erziehung und diente anderen Städten als Vorbild.

Als Musterstadt für gelungene Integration gibt es in Wolfsburg heute zwei deutsch-italienische Kindergartengruppen, eine zweisprachige Gesamtschule, eine konsularische Agentur und ein italienisches Kulturinstitut. Etwa 1.400 Italiener arbeiten heute bei VW, vertreten von der Fließbandarbeit bis ins Management.

Ein Fleckchen Wolfsburg, an dem Goethe und Schiller sich als Straßennamen begegnen, hat die Stadt Wolfsburg „Piazza Italia“ benannt. Nur dass diese „Piazza“ eine vielbefahrene Kreuzung ist und wenig mediterranes Flair in Form von Cafés, Zypressen oder wenigstens über Kopfsteinpflaster springenden Vespas abbekommen hat. Das gibt zu denken. Haben die Deutschen denn nichts von den Italienern gelernt?

Doch, das haben sie. Vor allem die Angebote des italienischen Kulturinstitutes werden fast ausschließlich von Deutschen genutzt. Dadurch ist Italien in Wolfsburger Köpfen nicht mit den ewigen Klischees von spaghettikochenden Mammas und schleimig-romantischen Gondolieres verbunden. Man weiß hier, dass Adriano Celentano außer „Azzurro“ auch noch die berlusconikritische Sendung „Rockpolitik“ gemacht hat, und dass letzterer zu Regierungszeiten bereits stark angefeindet wurde. Die Stadt hat den Sprung vom Misstrauen zur Bereicherung geschafft.

Als Italien Fußballweltmeister wurde, gab es natürlich auch in Wolfsburg ein paar eingeschnappte Verlierer. Größtenteils wurden aber auch die deutschen Wolfsburger solidarisch: Bei so viel Bella Italia um sie herum war es schließlich auch ein wenig ihr Sieg.

Auch mit der nonverbalen Sprache hapert es nicht mehr so stark wie in Rocco Artales Jugend: In einem Eiscafé unterstreicht eine junge Dame mit nach oben zugespitzten Fingern den Satz: „Ich hab mir voll das coole Top gekauft!“ Das ist zwar mit der eigentlichen Bedeutung der Geste („Was soll das?“) nicht mehr stimmig, aber immerhin temperamentvoll.

Am glücklichsten dürfen die Wolfsburger über ihre Restaurantlandschaft sein: Die Stadt hat es nicht nötig, sich in italienischen Restaurants von Albanern oder Pakistanis bekochen zu lassen. Wo Ristorante draufsteht, ist auch Italiano drin. Und darauf sind die Wolfsburger stolz.