: Worüber reden wir eigentlich?
SCHUBLADEN Die Diskussion um das Betrachten von Kinderbildern läuft an der Sache vorbei: Es gibt Kinderporno-Konsumenten. Und es gibt Pädophile. Dasselbe ist das nicht
VON NINA APIN
Müssen Konsum und Herstellung von Kinderpornografie härter bestraft werden? Darüber wird im Zuge der Edathy-Affäre gerade im ganzen Land diskutiert. Zu Wort melden sich Strafrechtler, Therapeuten, Mediziner und andere Menschen, die beruflich mit Pädosexuellen befasst sind. Dabei entsteht der Eindruck, wir alle wüssten genau, worüber wir reden: über (vorwiegend) Männer, die sexuell auf kleine Kinder festgelegt sind und sich heimlich an illegal gekauften Abscheulichkeiten ergötzen, um ihr Begehren zu befriedigen. Also über Pädophile. Der Volksmund kennt dafür ein hartes Synonym: Das des widerwärtigen „Kinderfickers“, dem die Höchststrafe gebührt. Doch so einfach ist die Sache nicht.
Es fängt schon damit an, dass Pädophilie und Pädosexualität in einen Topf geworfen werden. Ersteres bezeichnet eine sexuelle Vorliebe, Zweiteres eine sexuelle Praxis. Wer sich zu Kindern hingezogen fühlt und sie in seiner Fantasie begehrt, macht sich noch nicht strafbar. Nur wer sein Begehren auch auslebt, wird zum Täter. Aber nicht alle, die Kinder begehren, konsumieren auch Kinderpornografie.
Wenn also über den Handel mit strafbaren Darstellungen von Kinderkörpern geredet wird, sollte man die Pädo-Schublade erst mal wieder zumachen. Überraschenderweise ist die überwiegende Mehrheit derer, die Kinderpornographie kaufen und betrachten, tatsächlich weder pädosexuell noch pädophil. Sondern „ganz normal“ – zumindest offiziell. Das bestätigen zahlreiche Studien und zuletzt auch Zürcher Kriminalspezialisten, die Daten von 75.000 überführten Kinderporno-Konsumenten auswerteten und einige dieser Menschen sechs Jahre lang beobachteten. Kaum einer von ihnen war zuvor wegen Gewalt- oder Sexualstraftaten an Kindern auffällig geworden.
Diejenigen, die sich an Sexualhandlungen von und mit Kindern ergötzen und dadurch deren seelische und körperliche Unversehrtheit zerstören, gehören also nicht der Minderheit der eigentlichen Pädosexuellen an. Es sind mehrheitlich „ganz normale“ Hetero- oder Homosexuelle, die im Alltag Beziehungen mit Erwachsenen haben.
Oft genug entsteht kinderpornografisches Material im erweiterten Familienkreis als „Beiprodukt“ sexuellen Missbrauchs oder als bloße sexuelle Ausbeutung. Das heißt, es sind der Vater, der Lebensgefährte der Mutter oder der Horterzieher, die filmen und das Gefilmte vermarkten. Und Mütter, Stiefmütter und andere Erziehungsberechtigte, die Bescheid wissen und gelegentlich sogar vor der Kamera mitagieren. So jedenfalls die Erfahrung der Polizei.
Genau hier wird die Sache ungemütlich: Die Feinde der Kinder, die Missbraucher und Ausbeuter, sitzen in den Familien, sie sind Lehrer, Abgeordnete, Juristen. Und nicht ein paar bleiche, marginalisierte Pädophile, die zu Hause in ihrem Kämmerlein Schmutziges tun. Natürlich gibt es die, und nicht alle von ihnen sind therapiewillig oder verzichten aus freien Stücken darauf, ihre sexuellen Wünsche auszuleben. Aber was der Fall Edathy an die Oberfläche gespült hat – und es ist ja noch nicht einmal bewiesen, dass er überhaupt Strafbares konsumiert hat –, ist eine hässliche gesellschaftliche Realität, die durch das Etikett „Pädophilie“ in die Irre geleitet wird: Erwachsene Männer und Frauen konsumieren Kinderpornografie, um (auch das zeigen Studien) ihr Selbstwertgefühl durch die Erniedrigung von minderjährigen Sexualobjekten aufzupolieren. Es wird Zeit, wieder mehr über konkreten Kinderschutz zu sprechen und weniger über „die Perversen“, die ja bekanntlich immer die anderen sind.