: Urgemütliches Gemisch
WELTKULTURERBE Unesco prüft Zweizimmerwohnung in Bad Pyrmont
Über das, was zum Weltkulturerbe zählen sollte und was nicht, gehen die Meinungen auseinander. Der eine sagt dies über das Rheintal oder die Pyramiden und der andere das über irgendwelche künstlich angelegten Stauseen in unzugänglichen Hochgebirgsregionen. Den bislang heftigsten Streit in dieser Sache hat jedoch kein ehrgeiziger Lokalpatriot vom Zaun gebrochen, sondern ein Bundesbürger, dem es völlig egal ist, in welcher Stadt er wohnt. Es handelt sich um den Gartengehilfen Jörg Ditzmeyer (52), ansässig in Bad Pyrmont, Selma-Lagerlöf-Str. 4, zweites Obergeschoss. „Ich stamme nicht von hier, ich bin bloß zugezogen“, hat er schon einige Male ungefragt erklärt, „aber ich will, dass meine Mietwohnung als Weltkulturerbe anerkannt wird.“ Und warum?
„Weil sie eine urige Ausstrahlung hat, die ich auch nach einem möglichen Atomkrieg nicht missen möchte“, sagt Ditzmeyer. „Und darum geht es doch, wenn ich das Prinzip richtig verstanden habe: Im Krieg darf alles zerstört werden, ausgenommen die Stätten, an denen sich das Weltkulturerbe befindet. Und dazu gehört nun mal meine gemütliche Zweizimmerbude, in der ich so manches erlebt und getrunken habe.“
Interessierten Zeitgenossen führt er sie gegen 500 Euro Eintritt bereitwillig vor: Über einen schmalen, beiderseits mit vergilbten Zeitungsausschnitten zum Thema Wettrüsten und einigen eselsohrigen Urkunden zur Beglaubigung der Teilnahme ihres Besitzers an verjährten Bundesjugendspielen dekorierten Flur erreicht man ohne Weiteres die gute Stube, in der ein kurioses Stilgemisch aus unterschiedlichen Epochen der kleinbürgerlichen, der studentischen und der proletarischen Wohnkultur zu beobachten ist. Ein ausladender dunkelbrauner Flohmarktsessel disharmoniert aufs Gemeinste mit den zerschlissenen Bruchstücken einer feuerroten Omnibusledersitzgarnitur aus der Ära Adenauer, einem verdorrten Gummibaum, einem billigen Tischkicker, einer Standuhr aus der Kaiserzeit und einem schiefen, aus Backsteinen und harzigen Tannenholzbrettern zusammengefügten Bücherregal, auf dem sich insgesamt neunzehn schiefgelesene Auflagen eines Oldies über „Steuertricks“, drei zerfledderte Exemplare der Zeitschrift Geo, ein Dutzend Fantasyromane im Taschenbuchformat, drei verstorbene Mehlmotten und ein alter Einkaufszettel befinden („Käse, Oregano, Klopapier, Paniermehl, Margarine, Tesafilm, 600 m2 Katzenhaut, Marmelade, Spüli“).
„Und wofür haben Sie die Katzenhaut gebraucht?“
Darüber schweigt Jörg Ditzmeyer sich aus. Er geleitet die zahllosen, im Minutentakt aus aller Welt hereinschneienden Besucher lieber an der schauerlich verdreckten Kochnische und einem nicht näher zu beschreibenden Abtritt vorbei ins Schlafgemach, wo leere und zum Teil zerknickte Bierdosen, ausgelöffelte Heringsbüchsen, versteinerte Sockenknäuel und die Zeugnisse eines enthemmten Kettenraucherdaseins einen konturlosen Matratzenbrei umsäumen, der auf dem verkokelten Linoleumfußboden ausliegt. An der Wand hängt ein Poster der Mannschaft von Arminia Bielefeld (Saison 1983/84). Es gibt auch ein Fernsehgerät, aber nur ein kaputtes.
„Und das ist alles?“
Jörg Ditzmeyers Blick wirkt mit einem Mal trübe, ja erloschen. „Genau das haben mich auch die Herren Bürokraten von der Unesco gefragt, und ich kann nur sagen: Ja, und? Mehr brauche ich eben nicht! Und jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskommen! Mein Weltkulturerbe ist nicht für die Allgemeinheit geschaffen!“
Um seine „Ansprüche“ durchzusetzen, befindet Ditzmeyer sich seit drei Tagen „im Hungerstreik“, wie er verkündet hat, wobei es jedoch immer wieder mal vorkommt, dass ein Pizzaservice größere Bestellungen von ihm entgegennimmt. Die leer gefressenen Packungen landen zumeist im Vorgarten, sehr zum Ärger der Nachbarn, denen der Medienrummel und der Andrang schaulustiger Tagediebe ohnehin nicht behagen. Aber noch giftiger als die Äußerungen aus dem unmittelbaren Wohnumfeld klingen manche Leserkommentare im Internet. „Wenn dieses Loch als Weltkulturerbe anerkannt wird, dann kann ich auch meine Rostlaube auf die Liste stellen“, schreibt huibuh64, und wer die dazugehörige Aufnahme des betreffenden Kofferraums gesehen hat, der weiß, wie ernst es huibuh64 mit seiner Kritik ist.
Letzte Meldung: Die Redaktion des Trottelfernsehmagazins „Brisant“ will das Auto von huibuh64 versteigern lassen, und wie man hört, soll Lothar Matthäus spaßeshalber ein dreitägiges Schweigegelübde dafür geboten haben. Wer bietet mehr?
GERHARD HENSCHEL