: „Kommunikatives Beschweigen“
Claus Leggewie sieht im späten Bekenntnis von Günter Grass ein Dilemma der bundesrepublikanischen Intellektuellen. Die nationalsozialistische Vergangenheit wurde überkompensiert, gleichzeitig war man unfähig zum eigenen Schuldeingeständnis
INTERVIEW DANIEL HAUFLER
taz: „Ich habe mich doch selbst entnazifiziert.“ Das sagte 1995 der linksliberale Germanist Hans Schwerte, als sich herausstellte, dass er bis 1945 Hans Schneider hieß und SS-Hauptsturmführer war. Heute glaubt Günter Grass, „mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben“ angesichts seiner kurzen Zeit bei der Waffen-SS. Ist das eine typische Verdrängungsstrategie?
Claus Leggewie: Nicht Verdrängung, aber Verleugnung. Bei den meisten, die mehr oder weniger intensiv mitgemacht haben, kam erst nachträglich die Erkenntnis, in welch schreckliche Untaten sie involviert gewesen sind. Das hat auch denen den Mund versiegelt, deren persönliche Entnazifizierung glaubhaft ist, und die dazu beitrugen, die junge Bundesrepublik vor einem autoritären Rückfall zu bewahren. Sie haben ihre private, politische und gesellschaftliche Existenz auf neue Grundlagen gestellt, ohne die Transformation ihres Egos öffentlich zu machen. Sie dachten, wir leisten doch genug – Grass als Literat und öffentlicher Intellektueller, Schwerte als Exponent einer „kritischen“ Germanistik, linksgeneigter Rektor der Uni Aachen und durch sein Auftreten in der Öffentlichkeit.
In den Fünfzigerjahren hatten sie durchaus die Möglichkeit, ihre Vergangenheit öffentlich zu machen und ungeschoren davonzukommen. Bei der Frage Amnesie oder Amnestie haben sich die meisten jedoch fürs Vergessen entschieden.
Das muss etwas mit dem kolossalen Verbrechen zu tun haben, in das die Betroffenen verwickelt waren, Schneider in vorderer, wenn auch nicht vorderster Front und Grass nun wirklich in der letzten Etappe. Der Selbstaufklärungsprozess der Bundesrepublik ist erst Ende der Fünfzigerjahre eingetreten – und nun kommt das Paradoxe – unter starker Mitwirkung der Personen, über die wir hier reden. Sie dachten: Wir erklären ja gerade, was wir gemacht haben. Nur eines haben sie nicht erklärt, oft nicht einmal ihren Kindern: Wir waren dabei.
Dachten sie so, wie Hermann Lübbe 1983 in der Debatte um den „Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein“: Es ist wichtiger, wohin einer geht, als woher er kommt?
Ja, er nannte das ein „kommunikatives Beschweigen“. Als Beschreibung stimmt das: Man erwirbt sich eine moralische Position über, freundlich gesagt, „biografische Selbstdeutung“. Für meine Generation stellte dieses sture Schweigen im Familienkreis oder an der Universität ein großes Problem dar. Als gegen den Historiker Theodor Schieder 1969 die erste DDR- Kampagne lief, habe ich ihn gefragt, ob an den NS-Vorwürfen etwas sei, und er hat gesagt: Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Habe ich aber, und in den 1990er-Jahren kam es heraus – zu Recht.
Es ist seltsam, dass Günter Grass, Theodor Schieder oder Schneider/Schwerte so lange unbehelligt wirken konnten. Wo sind die ehemaligen Kameraden geblieben?
An der Universität Aachen haben einige Kollegen lange vor der Enthüllung von der Vergangenheit Schneiders/Schwertes gewusst. In Deutschland gab es so viele Mitwisser wie Mitläufer. Und einige haben sich sicher an diesen berühmten Günter in der Waffen-SS erinnern können – und geschwiegen. Dabei wäre die Skandalisierung einer so umstrittenen Figur und moralischen Instanz wie Grass doch ein gefundenes Fressen gewesen. Dennoch ist es nicht passiert. Es gab eine nichtkommunizierte Komplizenschaft, die weit über die berühmten Seilschaften hinausgeht. Das ist das Frappierende am Fall Grass, der ja, wenn man dem österreichischen Schriftsteller Robert Schindel glauben darf, im „privaten“ Kreis schon früher von seiner Vergangenheit berichtet hat.
In Ihrem Buch behaupten Sie, dass „nicht strahlende Helden mit einwandfreiem Lebenslauf, sondern Leute mit zweifelhaften Biografien“ wesentlich zur demokratischen Wende der Bundesrepublik beitrugen. Das würde für Grass noch mehr gelten als für Schneider/Schwerte. Womit begründen Sie Ihre These?
Transformationsprozesse nach einer Diktatur verlaufen so. Und die zwischen 1900 und 1930 Geborenen haben kontraphobisch reagiert. Nur so ist die Verve zu erklären, mit der exponierte Vertreter gegen mögliche Rückfälle und den „Adenauer-Mief“ gekämpft haben. Grass etwa wandte sich 1990 gegen die deutsche Vereinigung, weil er allen Ernstes die Wiederkehr des großdeutschen Reiches fürchtete. Er wusste ja, wie „verführerisch“ der Nationalsozialismus war, und deswegen wandte er sich auch übrigens vehement gegen totalitäre Anwandlungen der 68er. Die scharfrichterliche Strenge, die Grass kennzeichnet, ist eine Form von Überkompensation: Ich übe diese Rolle aus und exkulpiere mich so nachträglich.
Für viele in den Siebzigerjahren war Grass eine moralische Autorität. Für sie lesen sich manche seiner hoch moralischen politischen Interventionen gegen das Verdrängen, oder im Gegenzug dazu seine Verteidigung Walsers nach der Paulskirchenrede, ganz anders. Viele fühlen sich nun verraten.
Das kann man nicht so leicht von der Hand weisen, wie es Grass in seinem FAZ-Interview getan hat. Aber das starke Bedürfnis nach Identifikation mit moralischen Instanzen, mit diesen Großintellektuellen, ist ja auch problematisch. Nun stellt man zum hundertsten Mal fest, dass diese Menschen, oh Wunder, Schwächen haben. Eine davon ist Eitelkeit, eine andere, partout immer und zu allem eine öffentliche Moral verkünden zu wollen.
Die Frage ist aber nun: Was folgt daraus? Joachim Fest glaubt, dass Grass als moralische Instanz „schwer beschädigt“ sei. Sie auch?
„Die Blechtrommel“ wird dadurch nicht unbedeutender, und das weitere literarische Werk auch nicht. Neu lesen wird man seine politische Publizistik, und in Frage steht bei manchen der Nobelpreis. Denn er hat mit seiner Enthüllung auch deswegen so lange gewartet, um den zu bekommen.Und er hat ihn nur bekommen, weil er eine exemplarisch saubere Weste vorwies. So hat sich Grass als moralische Instanz selber demoliert, zumal es seit 1990 viel einfacher geworden ist, sich zu outen.
Besonders zerknirscht wirkte Grass bei seiner Beichte nicht. Seine Rolle als Gesellschaftskritiker behält er auch im „FAZ“-Interview bei, wenn er die miefige Adenauer-Ära kritisiert. Ärgert Sie das?
Allerdings. Da wird von einem, der nach eigenen Maßstäben „gefehlt“ hat, auch rückblickend noch eine moralische Herausgehobenheit in einer Phase tiefster moralischer Verkommenheit postuliert. Dabei war „miefig“ an den Adenauer-Jahren vor allem das farcenhafte Auseinanderklaffen von privater und öffentlicher Existenz, und geradezu lachhaft ist, wer an diesem Mythos weiterstrickt.