: Gesunde Tiere nützen nichts
DAS SCHLAGLOCH von HILAL SEZGIN
„Ultraschall verwirrt Mäusehirn“, verkündete die Wissensseite der Süddeutschen Zeitung letzte Woche und gab in der Unterzeile gleich Entwarnung: „Für Menschen sehen Mediziner derzeit aber keine Gefahr.“ Es folgte eine Reihe von Überlegungen, warum sich die Schallwelle bei Mensch und Maus unterschiedlich verhält. Ironischerweise stützen solche Meldungen, obwohl von den Wissenschaftlern nicht ohne Stolz präsentiert, ungewollt auch die Position der Tierversuchsgegner: Wozu an Mäusen Ultraschall ausprobieren, wenn das, was man dort beobachtet, aus verschiedenen Gründen nicht auf den Menschen übertragen werden kann?
Nun, kategorisch möchten sicher die wenigsten von uns Tierversuche als Mittel der Forschung ausschließen. Doch moderate Zweifel am Tierversuch kennen viele. Der kategorische Tierversuchsgegner hingegen argumentiert sozusagen für Mensch und Tier gleichermaßen mit kantianischen Gründen: dass man die einen (die Tiere) nicht zum bloßen Mittel für die Zwecke der anderen (der Menschen) machen dürfe. Moderater ist es, von Fall zu Fall eine Abwägung zu versuchen: Wie viel potenzieller Nutzen steht für die einen (für die Menschen) auf dem Spiel, wie viel Leid ließe sich hier vermeiden – und was muss man den anderen (den Tieren) dafür zumuten? Damit sich Abwägungen nicht zu brutalem Utilitarismus auf Kosten der „Geopferten“ auswachsen können, ist meist eine Art So-weit-und-nicht-weiter-Bedingung eingebaut; es gibt ein Ausmaß von Leid, das man einfach nicht zufügen darf, egal zu welch übergeordnetem und heiligen Zweck.
So gemildert und abgesichert, spricht viel für eine moderate Abwägung – theoretisch. Doch bei empirischer Betrachtung zerfließen die Grenzen. Dann tut sich ein solch weiter Horizont des Grauens auf, dass man den Bereich moderater Befürwortung gar nicht recht erkennen kann. Logisch geradezu zwingend ist zum Beispiel, dass der später zu heilende Zustand (Krebs, Multiple Sklerose, seelische Turbulenzen) dem Tier ja erst zugefügt, oft sogar gentechnisch „eingefügt“ werden muss, um zu untersuchen, wie er genau verläuft und wie man ihn behandeln könnte.
Millionenfach werden daher Tiere in Schmerz und Angst versetzt, weil wir an ihnen ein Leiden beobachten möchten, das dem des Menschen ähnlich ist, auch wenn die Schlüsse eventuell nicht auf diesen übertragen werden können.
Und so wird man auf den Wissensseiten jedes beliebigen Blattes auf den millionenfachen Tierversuch stoßen, manchmal zwischen den Zeilen, aber oft auch ganz explizit. Die Berliner Zeitung beispielsweise zollte kürzlich der Tatsache Achtung, dass „Menschenaffen und Rabenvögel … offenbar ein gewisses Talent zum Pläneschmieden haben“. Wie das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig an Orang-Utans und Zwergschimpansen herausgefunden habe, seien diese im Vorausdenken noch schlauer, als man gemeinhin denke. Und wie verbringen diese schlauen Affen ein Leben hinter Leipziger Gittern? – Wird nicht erzählt.
Der Spiegel versuchte dem Menschen neulich das Tier nahezubringen, indem er den Verhaltensforscher Jonathan Balcombe zitierte: „Tiere sind vergnügungssüchtig, so wie wir. Das Leben ist für viele von ihnen durchaus lebenswert.“ Schön zu wissen. Bloß berichtet dasselbe Magazin wenige Seiten weiter über die Suchtforschung am Tier: „Rhesusaffen trinken mehr Alkohol, wenn sie allein eingesperrt sind, als in angenehmer Gesellschaft.“ Für solch ein erwartbares Ergebnis – auf wie viel Quadrat(zenti)metern waren sie wie lange alleine eingesperrt? Oder was Goldhamster angeht: „Sie neigen bei Stress zu unkontrollierten Fressattacken … Das stellten Forscher … immer dann fest, wenn zwei dieser Einzelgänger gemeinsam in einem kleinen Käfig gehalten und damit in gehörige Aufregung versetzt wurden.“ Wie viel Aufregung für wie viele Hamster?
Nur eine Frage der Recherche? Eine Sisyphosaufgabe ist nichts dagegen. Sisyphos hatte wenigstens einen Stein und einen Berg, auf den er den Stein vergeblich zu rollen versuchen konnte. Eine Journalistin hingegen, die versucht, aus einer medizinischen oder industriellen Einrichtung eine konkrete Auskunft zum Thema Tierversuche herauszuholen, steht oft ohne jedes Ergebnis da. So wollte ich kürzlich den Chefarzt einer sehr renommierten deutschen Uniklinik telefonisch zu einer bestimmten Forschung befragen, die in den USA an Katzen durchgeführt wird. Dazu stellte ich meinem Interviewpartner auf Analogien abzielende Fragen: Wie seiner Einschätzung nach etwas im Bereich A verlaufen könne, wenn man es ähnlich wie in dem ihm vertrauten Bereich B anstelle. Auf diese Weise müsste er nichts allzu Genaues über die Forschung seiner Kollegen preisgeben, könnte mir aber wenigstens die Andeutung einer Idee geben, wie bestimmte Dinge praktisch aussehen.
Das Gespräch verlief gut. Bald kamen wir auf die Frage, was eigentlich mit den überzähligen Tieren geschieht, die in einem Labor gezüchtet werden, die aber die Voraussetzungen für die Versuche nicht erfüllen – also beispielsweise eine Maus, die keinen Tumor entwickelt, obwohl an ihr das Wachsen eines Tumors erforscht werden soll. Die würden „selektioniert“, meinte er, also getötet. Und wir sprachen ein wenig über das Töten und das Züchten und die Kosten an tierischem Material, die solche Forschung nun einmal mit sich bringt.
Solche Überschüsse tauchen oft nicht in den Zahlen über Versuchstiere auf. Schließlich wurde an ihnen ja nicht experimentiert. Als ich auflegte, fand ich, dass dieses Gespräch bemerkenswert offen gewesen war. Nur Wolf Singer, der Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, hatte mir einmal ebenso ehrlich zur Auskunft gegeben, dass seine Mitarbeiter an Affen weiterhin genau die Experimente durchführten, die man von älteren Fotos und Anti-Tierversuchs-Aufklebern kennt: Elektroden werden ins Hirn implantiert, die Affen in ihrem Sitz fixiert und so durstig gehalten, dass sie alles für einen einzigen Tropfen Saft mitmachen.
Außer Singer also hatte sich mir gegenüber noch niemand so offen geäußert. Verabredungsgemäß mailte ich jenem anderen Chefarzt das abgetippte Interview zu, damit er sehen könne, ob ihm seine Formulierungen gefielen. Er aber änderte nicht etwa einzelne Wörter um, sondern zog das Interview komplett zurück. Er habe ja nicht ahnen können, dass ich das Interview veröffentlichen wolle, schrieb er.
Um eine ethische Abwägung treffen zu können, braucht man Informationen. Was Tierversuche angeht, bekommt die Öffentlichkeit die meisten relevanten Informationen nicht. Gerne berichten private und universitäre Institute in Hochglanzbroschüren von ihren Forschungsergebnissen, schweigen aber von den Wegen, die zu diesen Ergebnissen führten. Man frage einmal den Pressesprecher einer solchen Einrichtung nach dem Grund. In einem ehrlichen Moment erwischt, sagt er: Weil sich die Leute dann so über die Tierversuche aufregen würden.