: „Wir haben keine Kameras“
JUGENDAMT Eine Mitarbeiterin des Hamburger Amts für Soziale Dienste berichtet über eine Arbeit, die alles leisten soll: Prävention, Kontrolle, lückenlose Dokumentation
Wir versuchen hier beim Jugendamt, Familien zu unterstützen, die Probleme mit ihren Kindern haben. Das reicht von Umgangsproblemen bei getrennt lebenden Eltern über Erziehungsprobleme bis hin zur Kindeswohlgefährdung, wo wir das Kind schützen müssen. Wie viele Fälle ich derzeit habe? Das weiß ich gar nicht so genau, tatsächlich etwa 70. Die Frage ist: Was ist überhaupt ein Fall? In der Belastungssituation, die wir haben, neigt man oft dazu, die Fälle, die als offen im Computer auftauchen, nicht formell abzuschließen. Da hat man dann ein paar Karteileichen.
Bei den von uns eingesetzten „Hilfen zur Erziehung“ ist es ähnlich schwierig: Ich kann sie durch intensive Betreuung teilweise vermeiden – werde aber möglicherweise bestraft, wenn ich dadurch weniger Fälle habe. Betreuung heißt frühzeitiger persönlicher Kontakt im Alltag, sodass die Leute uns ein Stück weit vertrauen, wenn sie Schwierigkeiten mit den Kindern, dem Lebenspartner und Ämtern haben. Aber wir sind sehr hochschwellig, wir haben eine Feuerwehrrolle und werden gerufen, wenn es schon eskaliert ist. Ich gehe zwei- bis dreimal pro Woche aus dem Haus, das würde ich gern viel häufiger tun.
Wie wir mit unseren Fällen umgehen, ist in einem etwa 600 Seiten dicken Anlagenband und weiteren Anweisungen festgehalten. Dort ist geregelt, wie wir sie erfassen, welche Fragenbögen wir anwenden. Ich glaube, dass das keiner je ganz gelesen hat, geschweige denn verinnerlicht hat. Letztendlich dienen diese Vorschriften vor allem der Kontrolle und der vermeintlichen Absicherung der Fachbehörde, dass alles ja irgendwo steht.
Die Politik will eine Dokumentation, die auch ein Laie versteht: drei Kreuze im Multiple-Choice-Bogen auf der Negativ-Seite und dann wird eine Hilfe eingesetzt. Ein Fließtext, der sich mit Beziehungen beschäftigt, ist natürlich nicht so klar. Der Eindruck, wie empathisch eine Mutter mit ihrem Kind umgeht oder wie belastbar sie in Extremsituationen ist – das lässt sich aber nur so vermitteln.
Es ist nun mal jeder Fall einmalig. Die Eltern sind unterschiedlich alt, die Kinder haben unterschiedliche Biografien, die Wohnverhältnisse sind unterschiedlich. Es wird oft über die Probleme der Fallübergabe geschrieben, wenn Familien umziehen. Ich würde das nicht dramatisieren, ein größeres Problem sind die Krankheitsfälle von KollegInnen. Da kann es gar keine Übergaben geben und es geht um 50 bis 70 Fälle, die man kaum oder gar nicht kennt. Oder bei der Mitarbeiter-Fluktuation, die bei uns ja ohnehin hoch ist: Da gibt es kein verbindliches Übergabe-Verfahren, vielleicht sind die KollegInnen auch nicht mehr so motiviert oder schaffen es einfach nicht mehr.
Aufgrund der öffentlichen Debatte kommen kaum Eltern freiwillig zu uns. Meist gehen wir auf die Eltern zu, weil wir Nachrichten bekommen haben, vor allem von der Polizei, aber auch von der Schule, Kita, Nachbarn. Die Eltern sind schnell in einer Rechtfertigungsrolle und erleben das als bedrohlich. Wer sagt schon gerne: „Ich habe es nicht geschafft: Ich war betrunken.“ Oder: „Ich bin nicht rechtzeitig aufgestanden, um den Kindern Frühstück zu machen.“
Wenn man es erklärt – oft sind es ja Familien, die immer wieder auftauchen –, dann gibt sich dieses Gefühl. Oder sie merken, dass Hilfen etwas gebracht haben, das spricht sich dann auch rum. Eigentlich ist unsere Arbeit toll: Wir können Kindern helfen, denen es schlecht geht, und Eltern, die Schwierigkeiten haben. Das gelingt ja auch: Es gibt Hilfen, die gut laufen, Kinder, die ihren Schulabschluss machen, Eltern, die sich bedanken.
Viele meiner Fälle sind Umgangsfälle, dabei geht es oft um Kleinigkeiten wie darum, dass ein Elternteil wieder zu spät gekommen ist. Die Emotionen kochen häufig hoch, dennoch sind es die vermeintlich leichteren Fälle. Schwieriger sind die Familien, die wir betreuen, wo es um latente Kindeswohlgefährdung geht und wir zwar einschätzen können, was passiert – aber die letzte Sicherheit fehlt. Davon habe ich vielleicht 15 bis 20 Fälle. Es gibt nicht immer die umsetzbare Lösung für alle Probleme. Diese Familien nehme ich oft gedanklich mit nach Hause. Wir haben keine Kameras in den Kinderzimmern. Es wird nie so sein, dass man mit letzter Sicherheit gewährleisten kann, dass kein Kind zu Schaden kommt.
Dadurch dass die Medien sehr breit über die Todesfälle von misshandelten Kindern berichten und das skandalisieren, meldet man heute eher mehr als weniger. Und die Spaltung der Gesellschaft geht voran: Immer mehr Leute sind arm, psychisch krank und überfordert. Das alles trägt dazu bei, dass familiäre Konflikte eskalieren.
Aus meiner Sicht wurde die Situation der Jugendämter nach dem Tod von misshandelten Kindern immer schlechter: Der Dokumentationsaufwand wurde höher. Und mit der Brandmarkung der vermeintlichen Unzulänglichkeit der ASD-Mitarbeiter macht man den Berufsstand und letztendlich auch den Kinderschutz kaputt. Wer will in einem Job arbeiten, wo nur Looser und Deppen sind?
Als Berufseinsteiger verdient man bei uns netto etwa 1.800 Euro, die ganz Langjährigen bekommen vielleicht netto 2.800 Euro. Wir bekommen hier fast nur Berufsanfänger, erfahrene Leute bewerben sich kaum. Viele wechseln: sei es, weil sie die Stelle als Sprungbrett sehen, oder weil sie sich die Arbeit nicht so stressig vorgestellt haben. Einige sind auch entsetzt, weil sich die Fachbehördenleitung und die Politik überhaupt nicht hinterfragen.
Die Krux ist: Man wird an den Schreibtisch gefesselt, soll gleichzeitig Hausbesuche machen, präventiv arbeiten und Geld einsparen – das geht nicht gleichzeitig. Dazu müsste man das Personal verdoppeln. Und das will die Politik nicht bezahlen. PROTOKOLL: FRIEDERIKE GRÄFF