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Archiv-Artikel

Der Täter Gottes

Als überall die Losung „25 Jahre DDR“ hing, zeigte er das Spruchband „2.000 Jahre Kirche Jesu Christi“ In den letzten Stunden saß nicht etwa die Familie bei ihm, sondern die Stasi, die jede Regung protokollierte

VON JOSEFINE JANERT

Der 16. August 1976 war ein sonniger Tag. Pfarrer Dieter Ziebarth war bestens gelaunt, als er vor der evangelischen Michaeliskirche in Zeitz, einer Stadt südlich von Leipzig, seinen Freund und Amtsbruder Oskar Brüsewitz traf. Er habe vor kurzem ein Gespräch mit Propst Bäumer gehabt, berichtete Brüsewitz niedergeschlagen. Der wolle ihn aus seiner Gemeinde weghaben. Ziebarth bot an, zu vermitteln, doch Brüsewitz winkte ab. „Ich werde dann gehen“, sagte er. Dieser Satz klingt Dieter Ziebarth immer noch im Ohr, dreißig Jahre danach. Er ist zierlich, ein Mann mit hellen, freundlichen Augen. Nun, da er im Ruhestand ist, lebt er allein in einer Zweizimmerwohnung in Berlin-Spandau. Dieter Ziebarth ist nicht gegangen, er ist geblieben, in jenem August 1976 bei seiner Michaelisgemeinde und auch später in der DDR bis zu deren Ende. In den Achtzigerjahren war er Pfarrer der Studentengemeinde in Leipzig und richtete 1990 in Ostberlin die erste Wärmestube für Obdachlose ein. Bis vor einem Jahr war er Pfarrer im Abschiebeknast, nun kümmert er sich ehrenamtlich um Flüchtlinge.

Zwei Tage später. Oskar Brüsewitz ist gegangen, doch in eine andere Richtung, als es Ziebarth nach der Unterredung annahm. Bis dahin war Brüsewitz Pfarrer in Rippicha, einem Dorf vor den Toren von Zeitz. Der Probst hatte ihm eine Versetzung in eine andere Gemeinde angetragen, da sich der 47-Jährige aufgrund seiner spektakulären Aktionen für die Kirche in stetem Clinch mit den Behörden befand. Doch am 18. August, am Vormittag kurz vor halb elf, parkte Brüsewitz sein Auto vor der Michaeliskirche im Zentrum von Zeitz, goss Benzin über seinen Talar und zündete sich an. Auf dem Plakat, das er mitgebracht hatte, stand: „Funkspruch an alle. Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen.“ Vier Tage später starb er. In seinen letzten Stunden saßen nicht etwa seine Frau und seine beiden Töchter bei ihm, sondern Stasi-Leute, die jede seiner Regungen und alle medizinischen Maßnahmen protokollierten.

„Ich werde dann gehen“ – dieser Satz hat Dieter Ziebarth schlaflose Nächte beschert während der beiden Jahre nach Brüsewitz’ Tod, da er zusätzlich zur eigenen auch die Gemeinde in Rippicha betreute. Von einem Selbstmord will Ziebarth nicht reden, für ihn ist die Selbstverbrennung ein Akt des Widerstands gegen die DDR und ihre Kirchenpolitik. Diese Sicht wird auch durch die Abschiedsbriefe belegt, die Ziebarth am 18. August aus dem Pfarrhaus rettete, kurz bevor die Stasi zu einer Durchsuchung anrückte.

Zeitzeugen und Kirchenleute, Historiker, Publizisten und die Genossen aus der PDS sind sich hingegen längst nicht sicher, wie die Tat von Oskar Brüsewitz zu werten ist. Die einen betrachten den Pfarrer als christlichen Märtyrer, die anderen als Opfer der angepassten Kirche in der DDR, als an Gott Verzweifelten oder als Mann, der gegen den Sozialismus kämpfte und dabei sein Leben ließ. Die Rhetorik wirkt oft brachial, sie erinnert an Feldzüge.

Dieter Ziebarth hingegen schlägt leise Töne an. Wäre es nur noch einmal zu einer Aussprache zwischen Oskar und dem Propst gekommen. „Ich bin mir sicher, dass er hätte bleiben können.“

Brüsewitz war die Attraktion von Rippicha. Die Leute tuschelten über den Pfarrer, diesen seltsamen Kerl aus dem Memelland, der auf der Straße Wildfremde ansprach und in den Gottesdienst einlud. Dort ließ er eine Taube fliegen – Symbol für den Heiligen Geist. Brüsewitz hatte erst Schuhmacher gelernt und war nach dem Scheitern seiner ersten Ehe 1954 aus Niedersachsen in die DDR übergesiedelt, wo er Theologie studierte. Als 1974 die Losung „25 Jahre DDR“ an den Häusern hing, antwortete er mit dem Spruchband „2.000 Jahre Kirche Jesu Christi“. Auf seinem Kirchturm brachte er ein Neonkreuz an, sehr zum Unmut der Behörden.

Ziebarths Familie stammt hingegen aus Mecklenburg. Als Schüler geriet er in Konflikt mit der DDR, die schon wieder aufrüstete und junge Christen schikanierte. Er wurde Pfarrer im Arbeiter-und-Bauern-Staat, da habe Gott ihn nun einmal hingestellt. Oskar Brüsewitz traf er 1970 in Zeitz. Sie freundeten sich an, da sie sich beide für kirchliche Jugendarbeit interessierten und Brüsewitz draußen in Rippicha Platz hatte für Sport und Spiele und die Veranstaltungen der Jungen Gemeinde. „Er war groß und hager“, erzählt Ziebarth, „und mit seinem Ostpreußisch fiel er unter all den Sachsen sofort auf.“

Attraktiv, gesprächsbereit – so zeigen ihn auch die Publikationen, die nach der Wende erschienen. Viele wollen den Pfarrer nun für sich vereinnahmen: die Kirche, die sich gern mit kompromisslosen Widerstandskämpfern schmückt, die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft, die kürzlich eine Tagung zu seinem Gedenken ausrichtete, auf der jene, die sich einst dem DDR-Staat angenähert hatten, niedergemacht wurden, und auch ehemalige Bürgerrechtler. „Er ist mir sehr nahe“, sagt Freya Klier, die ein Brüsewitz-Lesebuch für Schüler veröffentlicht hat. „Als Künstlerin mag ich seine klare Sprache und die sinnliche Art, mit der er seine Ideen umsetzte.“ Selbst das Neue Deutschland, das damals hasserfüllte Texte druckte, brachte vor kurzem eine Auswahl der Brüsewitz-freundlichen Briefe, die damals in der Redaktion eintrafen und sofort im Archiv verschwanden.

Oskar Brüsewitz ist im Tod von so vielen Fans umgeben wie im Leben von Skeptikern, Spitzeln und Feinden. Dabei stand ihm Propst Bäumer in dem verhängnisvollen Vieraugengespräch kurz vor der Tat durchaus kollegial zur Seite, mutmaßt Dieter Ziebarth. „Er hat wohl gesagt: ‚Du hast dich hier festgefahren. Wäre es nicht denkbar, dass du woanders einen Neuanfang wagst?‘ “ Brüsewitz’ Geradeaus-Taktik verunsicherte viele der Amtsbrüder, die es sich mit ihrer Kirche in der DDR bequem eingerichtet hatten, die sich vom Staat Reisen in den Westen genehmigen ließen und Sätze schrieben wie diesen: „Der Absolvent der Sektion Theologie fühlt sich mit der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung fest verbunden und sieht in der DDR sein Vaterland.“ Dieses Leitbild für Kirchenleute im Sozialismus stammt aus den Siebzigerjahren. Zur selben Zeit wirkte Brüsewitz in Rippicha – spontan, frech, originell. „Er war so, wie man in der DDR gar nicht sein konnte“, sagt Dieter Ziebarth.

Konnte, kann man in der Bundesrepublik so sein? Ohne die Erlaubnis irgendeiner Behörde baute der Pfarrer in seinem Dorf einen Spielplatz. Im Trauergottesdienst ließ er eine Eisenkette rasseln, um der Gemeinde zu zeigen, dass nur der Verstorbene frei sei von irdischen Fesseln. Er hoffte nicht auf den DDR-Sozialismus und auch nicht auf den Kapitalismus der Bundesrepublik, er baute auf das Reich Gottes.

Seine Amtsbrüder nannten den Modus vivendi, mit dem sie im Arbeiter-und-Bauern-Staat lebten, „Kirche im Sozialismus“. Nicht sozialistische Kirche, auch nicht Kirche für oder gegen den Sozialismus, sondern Kirche unter den Gegebenheiten dieses sozialistischen Staates. Weil auch in der Nachschau nicht ganz klar ist, was das bedeutete und welche Annäherung gerechtfertigt war, herrscht so viel Unsicherheit über den, der sich gar nicht angenähert hat. War er ein Einzelkämpfer, der es mit dem Glauben ernster meinte als andere? Wie konnte er dann seiner Familie die Selbstverbrennung zumuten? Darf ein Christ überhaupt von eigener Hand sterben?

Erst Brüsewitz’ Flammentod, dann im Herbst 1976 die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, dann dreizehn Jahre später das Ende der DDR, so sehen andere die Ereignisse in einer Abfolge, die logisch erscheint: „Mit Oskar Brüsewitz begann das Sterben der SED-Diktatur“, meint Peter Maser, Geschichtsprofessor an der Universität Münster.

Der Pfarrer schlug die Werbetrommel für den Glauben. So laut und so wirkungsvoll, dass es auch heute manchem auf die Nerven gehen würde. Dabei hatte er stille Helfer, vor allem seine Frau Christa und die Töchter. Seine Frau putzte die Kirche und die Räume der Gemeinde. Sie besuchte in Rippicha Alte und Kranke und bewirtete die vielen Gäste, die Brüsewitz spontan einlud. „Bisweilen waren es ganze Schulklassen“, erinnert sich Dieter Ziebarth. Sie wohnt immer noch in dem Pfarrhaus, denn die Pfarrstelle wurde nach Brüsewitz’ Tod nicht mehr besetzt. „Erst hatte niemand den Mut, dann kam die Strukturreform“, sagt Esther Fröbel, Brüsewitz’ jüngste Tochter. Sie ist Pfarrerin in Thüringen.

Von ihrem Haus aus geht Christa Brüsewitz, die keinen Orden und keine Ehrenrente erhalten hat, etwa hundert Meter bis zum Grab ihres Mannes in der „Selbstmörderecke“ des Friedhofs. Er hat es selbst markiert, bevor er losfuhr und sich anzündete. Bis vor einigen Jahren, bis es ihr zu schwer wurde, besuchte Christa Brüsewitz in Rippicha Alte und Kranke und bewirtete ihre Gäste. Ihr Haus war offen für fast alle, auch für jene, die damals nicht gekommen sind und die den toten Pfarrer jetzt hochleben lassen.