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Archiv-Artikel

„Ich wollte Rio nicht umbetten“

Gert Möbius hat die vergangenen zehn Jahre praktisch mit seinem toten Bruder Rio Reiser verbracht. Den Hof in Fresenhagen, auf dem der Sänger zuletzt lebte, hat er gerade noch vor der Zwangsversteigerung bewahrt. Jetzt lebt er selber dort

Auf der Internet-Seite des Rio-Reiser-Vereins muss Möbius sich mit Alt-Linken herumschlagen, die ihm Verrat am Sänger vorwerfen

aus FresenhagenKAY MÜLLER

Das Zimmer ist abgeschlossen. Den Raum, in dem der Sänger Rio Reiser über 20 Jahre gearbeitet hat, hütet sein Bruder Gert Möbius (62). Die vergangenen zehn Jahre hat er so praktisch mit seinem Bruder verbracht. Für einige Gäste öffnet er das Zimmer: Spinnweben hängen über den Bücherregalen, in einer Ecke liegt die Totenmaske des Sängers. Jeder, der hierher kommt, merkt, dass Gert Möbius eine besondere Stimmung packt, wenn er das Zimmer betritt. „Es riecht noch nach ihm“, sagt Möbius, der sich um das Rio-Reiser-Haus kümmert, den Hof im nordfriesischen Fresenhagen, den sein sieben Jahre jüngerer Bruder 1975 mit seiner Band Ton, Steine Scherben für 50 000 Mark kaufte und anschließend restaurierte. Am 20. August vor zehn Jahren starb Rio Reiser im Alter von 46 Jahren. Herzstillstand lautet die offizielle Diagnose.

Es ist Sommer in Fresenhagen. Jeder, der mit dem Auto Richtung Autoreisezug nach Sylt fährt, sieht irgendwann an einer langen Straße das Schild, das den Weg zum Rio-Reiser-Haus weist. In der kleinen Gemarkung Fresenhagen lebt nur eine Handvoll Menschen. Nach ein paar Kurven zeigt sich auf der rechten Seite ein großer, alter Bauernhof. Früher radikal-revolutionär, heute ruhig und reetgedeckt. Ein weißer Zaun, daran ein Schild, das den Weg weist. Den Weg zum Garten und einer aufwendig gestalteten Grabstelle, auf der ein steinernes Herz belegt, das hier Rio Reiser begraben ist.

Rios Bruder Gert Möbius, der sich seit dem Tod des Sängers um das Erbe kümmert, zeigt gern das Grab seines Bruders. „Er hat viel hinterlassen, Geld war leider nicht darunter“, sagt Möbius, der jetzt im Alter seinem Bruder ähnelt. Die Haare hat er länger wachsen lassen, wenn er sie schüttelt, sieht er fast so aus wie Rio Reiser in dem Video zu seinem Song „Junimond“. Die nackten Füße stecken in Latschen, sein Bruder war bekannt dafür, dass er immer barfuß auftrat, „weil er so die Welt besser spürte“. Gert Möbius ist kein Träumer. Er ist ein Fossil.

Die Band seines Bruders „Ton, Steine, Scherben“ hat es nie geschafft, sich ein großes Publikum außerhalb der linken Szene zu erarbeiten. Heute kennen nicht mehr viele die Polit-Rock-Band, die in den 70er Jahren mit Songs wie „Keine Macht für niemand“, „Warum geht es mir so dreckig?“ oder „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ das Lebensgefühl einer Jugendkultur prägte.

Für Gert Möbius ist das alles Teil seines Lebens. Er holte den 17-jährigen Rio, der bürgerlich Ralph heißt, 1967 nach Berlin. Reiser ist damals ein Hänfling mit Bartflaum, der auf seiner Gitarre ein paar Akkorde schrammelt und dazu in ein Mikrofon brüllt: „Ich will nicht werden wie mein Alter.“ In der aufgewühlten Stimmung West-Berlins der frühen 70er werden die Scherben schnell zu der Gruppe, der mit dem Rauch-Haus-Song die Hymne der Hausbesetzer gelingt. Sie geraten in Kontakt zu linken Gruppen, lang hält sich die Legende, „Keine Macht für niemand“ sei das Lied für die Rote-Armee-Fraktion gewesen. Doch die Terroristen um Andreas Baader hätten den Song abgelehnt, weil sie ihn für zu wenig militant erachtet hätten.

1975 brechen die Scherben aus dem Kreuzberger Milieu aus. „Keiner sollte ihnen was vorschreiben können“, sagt Gert Möbius heute. Die Scherben bringen ihre Platten als erste Band unter eigenem Label heraus, Geld verdienen sie damit nicht. Doch irgendwie kratzen Rio und Konsorten 50.000 Mark zusammen und kaufen in Fresenhagen einen heruntergekommenen Bauernhof auf, renovieren und bewohnen ihn. Platten produzieren die Scherben in den nächsten fünf Jahren nicht, alles Nötige zum Leben besorgen sie sich bei Bauern in der Umgebung oder klauen es. Drogen und Alkohol gehören zum Leben der Kommune dazu.

„Klar habe ich mir Sorgen gemacht“, sagt Gert Möbius, der sich immer als Beschützer seines kleinen Bruders sah. Fresenhagen sei nie wirklich die Heimat von Rio geworden, es habe ihn immer wieder zurück nach Berlin gezogen. Gert besorgt seinem Bruder Auftragsarbeiten, 1980 produzieren die Scherben in ihrem mittlerweile in Fresenhagen entstandenen Tonstudio das Album, das unter dem Titel „Die Schwarze“ bekannt wird. Sie gehen auf Tour, doch die ist schlecht organisiert. Die Band spielt für wenig Geld. „Was anderes hätte das Publikum nicht akzeptiert, die gehörten doch zur Bewegung“, sagt Gert Möbius.

Als Managerin wird Claudia Roth engagiert, die heute Parteivorsitzende der Grünen ist. „Wir haben von 15 Mark am Tag gelebt – alle. Einmal in der Woche konnte ich mir 50 Gramm Krabbensalat kaufen“, sagt die heute 51-Jährige, die damals das Zimmer neben Rio Reiser bewohnt. Und „ich habe in der Zeit viel gelernt, über das Zusammenleben in einer Kommune, über Toleranz und Freiheit, aber es war auch ein Überlebenskampf.“ Obwohl Claudia Roth das Management der Scherben professionalisiert, kann auch sie nicht verhindern, dass die Band weiter Schulden anhäuft: 1985 sind die Scherben pleite, die Band löst sich auf.

Rio Reiser ergattert einen Plattenvertrag. „Viele Linke haben das als Verrat angesehen“, sagt Gert Möbius. Doch der Erfolg kommt. „Rio wollte immer professionell Musik machen, mit guten Leuten in einem guten Studio. Das konnte er jetzt, auch wenn die Unabhängigkeit bei der Plattenindustrie natürlich ein wenig gelitten hat“, sagt Möbius. Die erste Solo-LP Rio I. wird sein größter Erfolg, auch wenn der König von Deutschland, so der Titel eines Songs von ihm, nie einen Top-Ten-Hit landen sollte. „Erfolg war ihm nie wichtig“, sagt Gert Möbius. Dabei verklärt er ein bisschen, dass sein Bruder stets darunter gelitten hat, dass ihn Pop-Größen wie Udo Lindenberg oder Herbert Grönemeyer erst sehr spät als einen der Erfinder des Deutsch-Rock akzeptiert haben.

„Wenn ich mit ihm telefoniert habe, war er oft gut drauf“, sagt Gert Möbius. Doch in Fresenhagen erlebt er ihn oft niedergeschlagen, tagelang verlässt Reiser das Bett nicht. Die alten Bandmitglieder verlassen einer nach dem anderen den Hof, Alkohol und Drogen spielen in Rios Leben immer eine wichtige Rolle. „Das Morbide war in ihm aber nicht angelegt, von seinem Tod wurde ich völlig überrascht“, sagt sein Bruder.

Gert Möbius verdient sein Geld am Theater, in den vergangenen Jahren hat er Drehbücher für die ARD-Serie Polizeiruf 110 geschrieben. „In letzter Zeit komme ich nicht mehr dazu“, sagt er. Rio nimmt in seinem Leben zuviel Platz ein. Er will das Erbe bewahren, hat das „Rio-Reiser-Archiv“ in Berlin aufgebaut. Den Hof in Fresenhagen will er erhalten, vor Jahren konnte er ihn gerade noch vor der Zwangsversteigerung retten. „Ich wollte Rio nicht umbetten“, sagt er. Wenn Gäste zum Grab seines Bruders pilgern, freut ihn das. Mit dem Regisseur Leander Haußmann sei er im Gespräch, sie wollten einen Kinofilm über Rio Reiser drehen. Die Musik sei wieder aktuell, sagt Möbius. Er merke es am Verkauf der T-Shirts mit dem Aufdruck: „Warum geht es mir so dreckig?“ Er lebt das, was sein Bruder einst sang: „Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.“

Möbius wird nie fertig sein, das Erbe seines Bruders zu verwalten. Auf der Internet-Seite des Rio-Reiser-Vereins muss er sich mit Alt-Linken herumschlagen, die ihm Verrat am Sänger vorwerfen. „Das sind die Gleichen, die das auch schon meinem Bruder vorgeworfen haben“, sagt er und lacht – und doch merkt man, dass ihn die Angriffe treffen.

Ob er seinen Bruder vermisst? „Sehr“, sagt Gert Möbius. Als er aufsteht und das Zimmer seines Bruders wieder abschließt, sagt er nur: „Das alles, soll denn das umsonst gewesen sein? Wer soll sich denn darum kümmern? Das kann doch nur ich.“