: Bittersüßer Most und raue Küste
Finistère nennt sich das Département im Westen Frankreichs. Der Namen stammt noch aus den Zeiten der römischen Besatzung: Finis Terrae, das Ende der Welt. Gerade in heißen Sommern ist die Bretagne ein beliebtes Urlaubsziel
VON GUDRUN MANGOLD
„Yec hed mad!“ heißt auf Bretonisch „Prost!“. Im Sommer nicht zu heiß und kaum Frost im Winter – die vom Meer umgebene Bretagne profitiert vom nahen Golfstrom. Im westlichen Teil der Halbinsel, dem Departement Finistère, ist man besonders traditionsbewusst. Hier pflegt man die keltische Sprache, und in der Küche setzt man auf altbewährte Crêpes- und Galette-Rezepte. Das typische Getränk der sanften Landschaft mit der rauen Küste ist der Cidre Cornouaille.
Hier sei der Winter sogar milder als in der Gegend um Nizza, sagen manche mit Hinweis auf die Palmen und Feigenbäume. Wir sind im nordwestlichsten Zipfel Frankreichs angelangt, der Basse-Bretagne, die auf der Karte wie ein aufgerissenes Löwenmaul in den Atlantik ragt. Ein seidiger Wind umschmeichelt uns, der zudem die immer wieder aufziehenden Wolken eifrig verscheucht. Finistère nennt sich das Département, was noch aus römischen Besatzungszeiten stammt, Finis Terrae, das Ende der Welt.
Die bretonische Halbinsel scheint überhaupt ein Konservatorium alter Sprachen zu sein. Auf Schritt und Tritt werden wir mit urigen Vokabeln konfrontiert. „Kreiz Ker“ steht unter „Centre ville“ und heißt also Stadtmitte. Ortsschilder und Verkehrstafeln sind durchweg zweisprachig. Eric, ein Student, den wir in einer kleinen Crêperie kennen lernen, erklärt uns, Bretonisch sei ein keltischer Dialekt und hier noch so stark, dass er in Kindergärten, Schulen und den Universitäten von Rennes und Brest ganz offiziell gelehrt wird.
Wir sind in der Hauptstadt des Finistère, in Quimper – auf Bretonisch Kemper, was Zusammenfluss bedeutet. Gemeint sind die Flüsse Odet und Steir, die sich dann bald gemeinsam im Atlantik verlieren. Ans andere Ufer kommt man in der Innenstadt immer schnell. Alle paar Meter führen schmale und bedrohlich reich mit schweren Blumenkästen versehene Fußgängerstege übers Wasser.
Quimper gilt als die bretonischste aller Städte. Vielleicht weil sich hier die dicht gedrängten, ihre Geschosse überbordenden Fachwerkhäuser an Verspieltheit gegenseitig überbieten? Vielleicht weil man noch viel Wert auf altes Handwerk legt, allen voran die teils bonbonbunten Fayencen, die an jeder Ecke angeboten werden? Oder vielleicht, weil man auf der Suche nach einem Restaurant fast unweigerlich auf eine Crêperie stößt?
Man fragt sich bald, ob man in diesem Landstrich überhaupt etwas anderes als Crêpes isst. Typische französische Küche und so. Eric muss ziemlich überlegen, bis ihm ein Tipp einfällt. Doch wozu? Die Crêperies seien doch fantastisch und außerdem gar nicht teuer! Es seien die besten in Frankreich! Wir lernen also zwei Typen einer Art Pfannkuchen unterscheiden. Die namengebenden Crêpes aus Weizen und die Galettes aus Buchweizen. Letzterer ist kein Getreide, sondern ein Knöterich. Die Franzosen nennen ihn „blé noir“, schwarzen Weizen, oder „sarrasin“, Sarrazenenkorn. Der Geschmack der Galettes ist herber als der der Crêpes, leicht bitter. Eric, das sieht man ihm auch an, ist ein Leckermäulchen und bevorzugt die süße Variante, die Crêpes. Heute belegt mit Äpfeln, Nüssen, ein bisschen Schoko- Creme, einer Kugel Eis und nicht ohne Sahne. Uns steht der Sinn eher nach Pikantem, also kommen für uns nur die Galettes in Frage. Angeboten werden sie mit Käse, Wurst, Schinken, Gemüse, Pilzen.
Aber – das Finistère ist doch ringsum von Küste umgeben! – wir entscheiden uns schnell für die Meeresfrüchte, die frischer als hier ja gar nicht sein können. Dazu trinkt man Cidre, sagt Eric und empfiehlt uns einen Cornouaille. Der sei traumhaft.
Wir folgen unserem Gourmet-Guide und sind überrascht. Nicht nur darüber, dass man grobe Steingut-Tassen vor uns hinstellt. Haben wir jetzt aus Versehen Tee geordert? Nein, alles bestens, der Kellner kommt mit einer Flasche und Eric klärt uns auf. Cidre wird hier nicht aus Gläsern getrunken, sondern aus den Bolées! O. k., schon gut – was auch sonst in einer Fayence-Gegend?! Die Krönung ist der prickelnde Most selbst. Klar kennen wir Cidre, aber so einen haben wir noch nie getrunken. Er ist herb und sehr erfrischend. Zu unserem Fisch und den Schalentieren auf den Galettes – einfach großartig. „Yec hed mad!“, ruft Eric und hebt seine Tasse. Wir verstehen, das kann nur „Prost!“ heißen.
Die Bretagne ist kein Terroir für Wein. Und die bretonischen Bauern und Fischer konnten sich den heute auch überall angebotenen Wein früher kaum leisten. Aber wahrscheinlich bestand überdies gar kein Bedarf. Wir jedenfalls vermissen den Rebwein kein bisschen. Der Cidre mundet uns wunderbar. Im Vergleich zu Wein kostet er außerdem deutlich weniger und hat nur etwa halb so viel Alkohol. Ein idealer Essensbegleiter, der einen nicht gleich aus den Sandalen haut und dazu das Urlaubs-Budget schont.
Der charaktervolle Geschmack des Getränks begeistert uns. Eric hat eine Idee – sein Cousin Christian hat ganz in der Nähe eine Cidrerie. Ein kurzer Anruf per Handy. Alles klar. Es geht raus der hügeligen Stadt, an lichtem Wald und ein paar Dörfern vorbei und dann zu einem einsam gelegenen Gut. Christian kommt uns entgegen. Eigentlich hat er ziemlich viel zu tun, aber er geht trotzdem mit uns zu seinen nahen Plantagen. Die Apfelbäume dort sind erst 15 Jahre alt. Christian gehört zu den Pionieren, die sich an die Kultur ihrer Großväter erinnert haben und heute wieder Cidre herstellen. Trotz der immensen Bedeutung der Äpfel und des Cidre durch die Jahrhunderte meinte man auch in der Bretagne in den 70er-Jahren, die Obstwiesen seien nur noch zum Roden gut. Der Cidre war – genau wie in Süddeutschland und der Schweiz der Most – aus der Mode gekommen. Inzwischen hat man sich aber besonnen.
Glücklicherweise, kann man nur sagen, wenn man kostet, was uns Christian ausschenkt. Im Degustationsraum reihen sich Auszeichnungen und Medaillen aneinander. Selbst Staatspräsident Jacques Chirac, verrät der Apfelbauer lächelnd, ordere bei ihm Cidre. Mit der „A. O. C. Cornouaille“ haben Christian und seine Kollegen ins Schwarze getroffen. Was es mit „ A. O. C.“ auf sich hat, wisst ihr doch, fragt er uns. Klar. Ist die Abkürzung von „Appellation d’origine contrôlée“, Herkunftsbezeichnung würde man in hölzernem Deutsch sagen. Die Äpfel müssen also von hier stammen. D’accord, sagt Christian, aber nicht nur das. In anderen Gebieten der Bretagne und sowieso in der Normandie, wo die Cidre-Produktion weitaus größer ist, keltert man traditionell eine Mischung von süßen, sauren und bitteren Äpfeln. Die süßen Äpfel bringen den Zucker und somit auch den Alkohol. Saure Äpfel, so heiße es, die Frische und Fruchtigkeit. Die bitteren schließlich mit ihren Gerbstoffen strukturieren den Cidre. Beim Cornouaille jedoch, so hat man sich vor ein paar Jahren verständigt, verzichtet man auf die sauren Sorten ganz. Ausschließlich süße und bittere Äpfel dürfen in die Presse. Kein saurer Apfel in der Geschmacksnote. Wir kosten nochmal, bewusster. Das Zusammenspiel von bitter und süß ist – einfach genial.
Christian muss wieder zu seiner Presse. Auch Eric verabschiedet sich von uns. Er wirkt, als ob er schon wieder Hunger nach Crêpes hätte. Wir fahren vollends die paar Kilometer bis zur Küste, die im ganzen Finistère so nah ist. Bis direkt ans Wasser gedeihen hier Apfelbäume, deren tiefrote Früchte jetzt in der Abendsonne leuchten.
Nun sind wir also im Cornouaille. So hieß im Mittelalter das Königreich und spätere Herzogtum, dessen Hauptstadt Quimper war. Der Korken einer Flasche von Christians bestem Cidre schießt mit einem lauten „Plopp!“ über die Kaimauer. Man erinnere sich nur an König Artus, diesen legendären Herrscher, dessen Ritter hier ihre Tafelrunden abgehalten haben sollen. Was sie getrunken haben, wissen wir inzwischen ganz genau. Zwei der winzigen Inseln, die der Löwenkopf gleichsam ins Meer speit, können wir weit draußen im Dunst ausmachen. Schwer verwundet soll Artus nach Avalon gebracht worden sein, das auf Keltisch Apfelinsel oder auch die Glückliche bedeutet. Yec hed mad! …