Mephisto, der wahre Moralist

OPERNPREMIERE Der Choreograf Christian Spuck bringt „Fausts Verdammnis“ von Hector Berlioz auf die Bühne der Deutschen Oper – um Faust geht es zwar weniger, dafür öffnet die Inszenierung einen großen Raum für Bilder

Eher in zweiter Linie geht es auch um den Faust. Der leidet bloß an Weltschmerz, findet Berlioz, und gibt ihm zwei schöne Arien

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Vier Harfen stehen rechts ganz oben auf der Showtreppe, die aus dem Orchestergraben heraus aufragt und das Bühnenportal umrahmt. Links haben diesen Spitzenplatz die Flöten und Oboen eingenommen. Prächtig sieht das aus. Wir haben Zeit, die Schönheit von Musikinstrumenten zu bewundern, und wissen, dass wir heute bei Hector Berlioz zu Gast sind.

Christian Spuck, der Chef des Balletts an der Oper von Zürich, hat ihm dieses postume Festspiel arrangiert. Man könnte auch sagen, dass er Regie geführt hat, aber das wäre zu wenig. Die Showtreppe für das Orchester ist nur das Entrée seiner Hommage für ein schwieriges Genie. Von seiner Musik alleine konnte Berlioz nicht leben. Er reiste durch halb Europa, nur um dirigieren zu dürfen, was damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kein angesehener Beruf war. Den Takt schlagen konnte ja jeder.

Berlioz hatte dafür immer ein Metronom dabei. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Musikkritiker, und er schrieb ein Buch, das Kompositionsschüler und Dirigenten noch heute lesen müssen, weil es kein besseres gibt: „Grand Traité d’instrumentation et d’orchestration moderne“. Was die Harfen, Flöten und alle anderen im Graben, die man sonst nie sieht, tun können, steht dort nachzulesen.

Donald Runnicles kommt ans Pult und der erste Applaus ist fällig. Er gilt nicht allein dem braven Chefdirigenten der Deutschen Oper. Beklatscht wird ebenso diese erste Szene, das sprechende Bild der Instrumente des Monsieur Berlioz. Dann geht das Licht aus – und sie spielen gar nicht. Minutenlang stummes Dunkel im Saal. Ganz allmählich wird dann aber doch Emma Ryotts Bühnenbild erkennbar. Es ist eine nach vorne geneigte, kreisrunde Scheibe. Links sitzt trübsinnig Klaus Florian Vogt an einem Schreibtischchen. Rechts oben tanzen zwei Männer, ein Weißer und ein Schwarzer, einen Pas de deux ohne Musik: „Zwei Seelen, ach, in meiner Brust …“ Mit Anspielungen auf Goethes „Faust“ ist an diesem Abend stets zu rechnen. Denn Spuck will uns am Beispiel der Partitur der „Damnation de Faust“ von 1846 zeigen, welches Genie wirklich in Berlioz steckt, dem berühmten Franzosen, der fast nie aufgeführt wird, weil seine vier Opern nie für nachhaltig volle Säle sorgen. Wahrscheinlich, weil sie nie richtig aufgeführt werden.

„Fausts Verdammnis“ zumindest ist keine Oper. Berlioz war sich selbst nicht sicher, ob sie szenisch realisierbar ist. Er schrieb eine Folge von Szenen aus Tagträumen, in denen Singstimmen, Chöre, Tänze und Instrumente höchst eigenwillige Symbiosen eingehen. Sehr lose werden sie zusammengehalten von seinen Erinnerungen an die Lektüre von Gerard de Narvals Übersetzung des ersten Teils von Goethes „Faust“, die ihn schon in früher Jugend begeistert hatte. Diese literarischen Erinnerungen und Reflexionen eines Intellektuellen brauchen keine Dramatik auf der Bühne, sie brauchen Raum, in dem sie ihre Originalität entfalten können. Spuck öffnet ihn mit Choreografien, die alle mit einbeziehen, nicht nur die zehn Tänzerinnen und Tänzer, sondern auch den Chor und die Solisten.

Ihre Bewegungen und Positionen erzeugen Bilder, die eine Geschichte erzählen, wie die Sauftour nach Leipzig in Auerbachs Keller oder die Höllenfahrt mit apokalyptischen Pferdeskeletten in Video. Manchmal aber stehen die Bilder ganz für sich, erzählen nichts und lassen deutlich erkennen, worum es Berlioz in diesem Augenblick ging: oft nur um die Musik, die das Orchester spielt. Nicht irgendeines, sondern unter Runnicles wirklich das Orchester des Hector Berlioz mit allen Klangfarben, die man sich nur vorstellen kann.

Eher in zweiter Linie geht es auch um den Faust. Der leidet bloß an Weltschmerz, findet Berlioz, und gibt ihm zwei schöne Arien, aber eigentlich mag er Mephisto lieber, den Samuel Youn zur großen Rolle ausbaut. Denn er ist der wahre Moralist dieser Welt. Gretchen hat es natürlich ein wenig schwer unter diesen Männerfantasien, aber Berlioz hat ihr eine sehr schöne Melodie zur Ballade vom König in Thule geschrieben, die Clémentine Margaine ebenso schön singt, unter einem Nachthimmel, an dem die Sternchen prangen.

Denn auch das ist wahr: Es gibt Kitsch bei Berlioz. Spuck verschweigt ihn nicht. Wenn am Ende endlich alle vier Harfen zu Gretchens Himmelfahrt spielen, ist die Grenze dazu überschritten. Aber Berlioz, so ist bei Spuck zu lernen, hat ja auch sonst alle Grenzen überschritten, die der Oper ohnehin und vielleicht sogar die seiner Zeit. Großer Applaus in der Deutschen Oper.

■ Aufführungen: 27. 2., 5. 3., 8. 3.