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Archiv-Artikel

Niedergang und Niederlage

Das Lehrgeldspiel am ehemals Furcht einflößenden Tivoli: Alemannia Aachen schenkt beim 0:1 gegen erst pomadige dann leidenschaftliche Schalker das Spiel her und sich ein wenig Hoffnung

„Die erste Halbzeit hat gezeigt, warum wir Bundesligist sind“, sagte Dieter Hecking

AUS AACHEN BERND MÜLLENDER

Beim ersten Erstligaspiel auf dem Hühnerstall-engen Tivoli nach 36 langen Jahren sollte es zugehen wie in grauer Vorzeit: Der Gegner möge gefälligst massiv eingeschüchtert sein von den den wogenden Stehplatzwällen bis an die Auslinien, wenn der laut Sportdirektor Jörg Schmadtke „naturbelassene Club“ leidenslustig seinen „noch handgemachten Fußball“ (Präsident Heinrichs) abliefert. Und Tivoli ist wirklich eine Zeitreise: Dazu gehört das emphatisch mitgebrüllte Vereinslied von 1967 („3:0 im Rückstand steht das Spiel, aber das bedeutet gar nicht viel...“), Fanschals im Retrostil, eine Latrinenästhetik, die Denkmalschützer begeistern müsste, Bratwurstschwaden und andere Duftmarken wie die große Werbebande für „Tabak Original“.

Genutzt hat es nichts. Heutige Profis stecken Gift- und Galleatmosphäre cooler weg als ihre Kollegen vor fast vier Dekaden, als in der ersten Aufstiegssaison 1967/68 nur Bayern München hier siegen konnte – auch im ersten Spiel. Schalke hatte am Samstag durch einen Treffer von Dario Rodriguez (53.) glücklich 1:0 gewonnen und Aachen eine Menge verloren: Das Spiel, ein wenig vom Stadionmythos – „das hab‘ ich mir schlimmer vorgestellt“, sagte Halil Altintop – und einiges an Glauben an sich selbst: Wenn man schon gegen zehn Schalker, Mladen Krstajic sah in der ersten Halbzeit Rot, zuhause nicht gewinnen kann, wann wie gegen wen dann?

Die Debatten nachher gebaren manch verquere Botschaft. S04 versuchte eine desaströse erste Halbzeit schönzureden, immerhin wusste Trainer Mirko Slomka zuzugeben: „Da haben wir viel Glück gebraucht.“ Erst in der Not durch Unterzahl zeigte der Europa-Aspirant mit dem tollen Torwartnovizen Manuel Neuer Teamspirit und Zusammenhalt. „Ja“, sagte Krstajic, vielleicht habe sein Platzverweis dem pomadigen Team mehr geholfen als geschadet: „Danach hat die Mannschaft Charakter gezeigt.“ Slomka: „Die zweite Halbzeit haben wir clever runtergespielt. Da haben gezeigt, dass wir füreinander da sind.“

Die Alemannen versuchten aus einem halben Dutzend bester Chancen Hoffnung zu schöpfen und mentale Aufbauarbeit an sich selbst. Trainer Dieter Hecking: „Die erste Halbzeit hat gezeigt, warum wir Bundesligist sind. Da war der Gegner durchgeschüttelt.“ Aachen spielte bis auf den starken Neuzugang Jeff Leiwakabessy mit der Aufstiegself und ohne das defensive Experiment mit der Doppelsechs. In der 2. Halbzeit taten sie das zunehmend übereifrig, überhastet, oft mit dem falschen Pass im falschen Moment.

Die individuelle Unterlegenheit glich Schalkes personelle Unterlegenheit aus. Und die coolen Gäste ohne jede „totale Dominanz“ (Teamslogan) profitierten von Aachens Naivität. Marcelo Bordon rammte Alexander Klitzpera kurz vor der Pause so eindeutig von den Beinen, dass man dafür den Elfmeter hätte erfinden müssen, wenn es ihn nicht schon gäbe. Schiri Fandel pfiff nicht. Aber die Aachener protestierten auch nicht. „Da muss man sich als Spieler auch mal ereifern“, schimpfte Hecking. Klitzpera gab zu Protokoll, er habe sich ganz auf den Ball konzentriert und seltsamerweise „nur einen Zusammenprall registriert“.

Nach dem Lehrgeldspiel wusste auch Willi Landgraf, sonst der Schlagfertigsten einer, nichts zu antworten, ob er jetzt gegen sich selbst verloren habe oder vielleicht doch gewonnen. Der kleine Aachener Exverteidiger, der jetzt im Schalker Oberligateam spielt, lachte schallend und sagte: „Puuh, näh. Weiß nich. Ich muss zum Erik“ und entschwand zu seinem Ikonenkumpel Erik Meijer ins VIP-Zelt. Vor dem Spiel waren Alemannias Pat und Patachon per Fallschirmsprung auf dem Stadionrasen niedergegangen. Wenigstens das hatte geklappt, zumal Landgraf die Landung in seiner Lieblingsbewegung absolvierte: per Grätsche.