Vorwärts, rückwärts, nie allein

KONZERT Ein Konzert von The Notwist ist eine musikalische, aber auch eine biografische Zeitreise. Beim Tourauftakt im „Schlachthof“ Wiesbaden sind alle ganz bei sich

Die verschiedenen Inkarnationen von The Notwist bilden Schicht um Schicht eine Gesamtästhetik

Zu Hause gehört die Musik der Lieblingsband einem ganz allein, jeder Song, jedes neue Album ist ein persönliches Geschenk – im Falle von „Close to the Glass“, dem neuen Album von The Notwist, sogar ein sehr gewichtiges. Beim Konzert dann muss man teilen, mit Unbekannten: die Musik, die Stimmung, die Texte. Am Montag zum Tourauftakt von The Notwist im „Schlachthof“ Wiesbaden beginnt eine zweistündige Zeitreise, sie führt von der Gegenwart aus in die frühen Neunziger und wieder zurück ins Hier und Jetzt. Und dazwischen in diverse andere Zeiten und Welten.

Ein voller Saal, und dennoch herrscht andächtige Ruhe, bevor das Konzert beginnt. Menschen zwischen 15 und 50 blicken geduldig Richtung Bühne, von der schließlich aus dem Dunkel heraus die ersten Töne von „Signals“, dem Auftaktsong von „Close to the Glass“, ertönen. Raunen und verhaltener Applaus gehen durch den Raum, dann werden die Musiker sichtbar – die auffällige Entspanntheit des Publikums wird auch von ihnen ausgestrahlt. Markus Acher bedankt sich nach jedem Song, freut sich mit seinen Bandkollegen über die Live-Präsentation der neuen Songs und die alten Songs in neuen Gewändern. Räume werden geöffnet, die Krautrockansätze von „Close to the Glass“ dehnen sich aus, verhallte Stimmen verharren im Saal, Live-Remixe ihres Evergreens „Neon Golden“ gehen über in Gitarren- und Elektroniklärm, bis man hinausgeweht wird vom halb-akustischen „Gone Gone Gone“. „Cause we’ll never let you go this far alone / We will never let you go“, singt Markus Acher da.

Man glaubt es ihm, so wie man den Musikern alles zu glauben gewillt ist, die sich nach dem Konzert angesichts des nicht enden wollenden Applauses verbeugen und schelmisch über die Ränder ihrer runden Brillen linsen. Die verschiedenen Inkarnationen von The Notwist stehen selbstverständlich nebeneinander, bilden Schicht um Schicht eine Gesamtästhetik, die in dieser Art wohl einzigartig ist in Deutschland – auch wenn sich The Notwist sicher nie als deutsche Band verstanden wissen wollten.

Ein Konzert von ihnen ist immer eine musikalische, aber auch eine biografische Zeitreise, kaum zu verhindern bei einer Band, die wie wenige andere musikalisch immer schon da angekommen war, wo man selber auch gerade hinwollte: Sei es Post-Rock, Jazz, Elektronik oder der perfekte Popsong. Zum Glück geht das in Wiesbaden den meisten Konzertbesuchern ähnlich: Alle wirken bei sich, einzelne Mitklatschhände verschwinden schnell in der langsam wogenden Menge. Während Markus Achers sonore Stimme den Raum erfüllt und Micha Acher sich hin und her wiegend seinen Bassläufen hingibt, dreht sich die Zeit im Kopf rückwärts.

Nach 1995 etwa, als The Notwist in Bingen eines der ersten Konzerte zusammen mit dem damals frisch rekrutierten Elektronik-Produzenten Martin Gretschmann spielten, der grinsend über elektronisches Equipment gebeugt auf einer Bierkiste am Rand der Bühne saß.

Heute steht er im Zentrum des Geschehens, analog zu seinem angewachsenen Beitrag zur Bandästhetik von elektronischen Akzenten auf dem Album „12“, das 1995 gerade erschienen war, bis hin zum gleichberechtigten Songwriter und Soundkonstrukteur in der Gegenwart. Damals in Bingen lag der Sound von The Notwist der Geschichte von Punk und Hardcore noch näher. 1990 hatte das Independentlabel Subway Records ihr erstes Album veröffentlicht.

Man spürt diese Vergangenheit über diverse Konzerte und Alben hinweg bis in die Gegenwart von Wiesbaden im Februar 2014. Die Band hält ihre Songs immer offen, ihr Spiel mit der eigenen musikalischen Vergangenheit, ihr Spaß am Lärm, aus dem sich wiederum kleine Melodien herausschälen, ist zu hören. Songs, die zu Elektronik-Tracks mutieren und in krautige Improvisationen übergehen. Im dritten Zugaben-Block kreischen dann die Gitarren, aber selbst wenn sie auf der Bühne rocken, wirken The Notwist nie wie Macker. Sondern bleiben ein persönliches Geschenk. Nur für mich, das für zwei Stunden wiedas kleine Hardcore-Kid vom Land, das dank The Notwist neue musikalische Welten entdecken darf. JONAS ENGELMANN