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Archiv-Artikel

Punkt für die Sozialdemokraten

Die SPD tendiert zum Mindestlohn, die Union eher zum Kombilohn – eine Reformdebatte, die den Herbst bestimmen wird

Minister Glos (CSU): „Mindestlohn schadet der Beschäftigung, Kombilohn schadet dem Budget“

AUS BERLIN HANNES KOCH

Nach neun Monaten großer Koalition sind Union und SPD ziemlich durcheinander. Die alten Bekenntnisse – die Freiheit der CDU, die Gerechtigkeit der SPD – drohen zu verwischen. Trotz aller Grundsatzdebatten sind sie in der praktischen Politik jedoch durchaus erkennbar. Dass beide Parteien sich auch weiterhin an ihren traditionellen Markenkernen ausrichten, zeigten gestern die Beschlüsse des Bundeskabinetts zum Niedriglohnsektor.

Einen Punkt für die Sozialdemokraten als Gerechtigkeitspartei machte Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD), indem das Kabinett seinen Gesetzentwurf zum Mindestlohn annahm. Nach den Bauarbeitern wissen auch Fensterputzer: Weniger Lohn als 7,87 Euro im Westen und 6,36 Euro im Osten pro Stunde ist illegal. Alle Reinigungsfirmen, die in Deutschland tätig sind, müssen sich künftig daran halten – selbst wenn sie ihren Hauptsitz im Ausland haben.

Die soziale Sicherheit steht auch bei dem Zeitplan im Vordergrund, den sich Müntefering gestern vom Kabinett absegnen ließ. Es geht, wie sein Sprecher formulierte, um „vernünftige Regelungen für den Niedriglohnsektor, nicht um seine Ausweitung“. Brauchen wir mehr schlechtbezahlte Jobs, wie kann man die Niedriglöhner vor größerer Armut schützen, soll es mehr staatlich finanzierte Arbeitsplätze geben?

Das sind Fragen, die Müntefering in einer prominent besetzten Arbeitsgruppe mit seinen Kollegen Peer Steinbrück (Finanzen), Michael Glos (Wirtschaft), der Bundeskanzlerin, den Regierungsfraktionen und einzelnen Länderregierungen klären will. Außerdem peilt der Arbeitsminister öffentliche Anhörungen zu fünf Themen an: Niedriglohn, Mindestlohn, private Aufstockung von staatlicher Unterstützung, öffentlicher Arbeitsmarkt, Korrekturen bei Hartz IV. Anfang 2007 soll das Kabinett einen aus diesen Debatten resultierenden Gesetzentwurf beschließen.

Minister Müntefering (SPD): „Die Leute sollen einen gerechten und fairen Lohn haben“

Dass der Arbeitsminister nicht einen eigenen Entwurf vorlegt, mag man als faire Kompromisssuche betrachten. Andererseits spiegelt die Vorgehensweise eine gewisse Unentschlossenheit, die angesichts der Verhältnisse in der Koalition plausibel erscheint. Beide Regierungsparteien wollen nur allzu gern über den Niedriglohnsektor reden, freilich aus gegensätzlichen Interessen. Die SPD nähert sich der schlechtbezahlten Arbeit eher aus der ihr vertrauten Richtung des sozialen Ausgleichs. „Die Leute sollen einen gerechten und fairen Lohn haben“, so Müntefering. Daher die Idee des Mindestlohns: Wenn es ihn in allen Branchen gäbe, „wäre das optimal“, sagt der Arbeitsminister. Wobei er weiß, dass diese Vorstellung schon am Willen des Koalitionspartners scheitert. Immerhin aber schwebt Müntefering vor, den Mindestlohn „Zug um Zug“ auszudehnen.

Die Union hingegen betrachtet den Niedriglohnsektor mit Sympathie. Billige Arbeitsplätze, das hat selbst CDU-Ministerpräsident Rüttgers kritisiert, gelten vielen christlichen Politikern als Voraussetzung für Investitionen der Unternehmen. Niedriglohn ist für die Union weniger angstbesetzt, sondern verspricht Risiko und Freiheit. Dieser weltanschaulichen Disposition entspringt die Idee des Kombilohns: Wer wenig verdient, soll Zuschüsse vom Staat erhalten. Die Folge: Arbeitgeber werden versuchen, ihre Löhne weiter zu senken – der Staat springt ja ein. Daher wissen die Christdemokraten, wo die Grenzen der SPD liegen: bei Finanzminister Peer Steinbrück, der sich Milliardenausgaben für Lohnkostenzuschüsse nicht leisten will, und Arbeitsminister Franz Müntefering, der sich neue Kombilohn-Experimente allenfalls für ganz junge und ganz alte Arbeitslose vorstellen kann. Und nicht einfacher wird die Kompromisssuche dadurch, dass neben Union und SPD eigentlich noch eine dritte Partei in der Regierung sitzt: der Wirtschaftsflügel der Union. Wie schrieb CSU-Wirtschaftsminister Michael Glos unlängst? „Mindestlöhne schaden der Beschäftigung, Kombilöhne schaden dem Budget.“