Ein australischer Chauvi

WIKILEAKS-AKTIVISTINNEN Gründer Julian Assange soll nicht mehr allein das Gesicht sein – sondern eine Auszeit nehmen, solange die Vergewaltigungsvorwürfe nicht geklärt sind

„Ich sehe mich selbst als Julians Freund. Gute Freunde sind die Leute, die dir sagen, dass dein Gesicht schmutzig ist“

Wikileaks-Aktivistin Birgitta Jónsdóttir

Diese Kritikerin kann er nicht weglächeln: Birgitta Jónsdóttir aus Island. Sie ist Internetkünstlerin, Parlamentsabgeordnete, Wikileaks-Aktivistin und Initiatorin des „Immi“-Projekts, mit dem Island zu einem Medienfreihafen mit umfassendem Informantenschutz werden soll. Eigentlich alles Dinge, die Julian Assange höchst sympathisch sein sollten. Nur: Jónsdóttir will, das der Wikileaks-Gründer als Sprecher der Plattform ein Time-out nimmt – zumindest solange die Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn nicht geklärt sind.

„Jemand muss das jetzt sagen, und wenn man mich deshalb verbannt, macht mir das auch nichts“, sagt sie. Und die bei Wikileaks schon länger schwelende Unzufriedenheit mit Assange wird durch ihren Vorstoß nun öffentlich: „Ich bin nicht böse auf Julian, aber die Situation ist ihm außer Kontrolle geraten“, sagt Jónsdóttir in einem Interview mit Tina Browns News- und Blog-Website The Daily Beast. Denn „diese persönlichen Geschichten sollten nichts mit Wikileaks zu tun haben. Ich habe ihn dringend gebeten, sich auf seine juristischen Angelegenheiten zu konzentrieren und einige andere Leute die Fackel für eine Weile tragen zu lassen.“

Noch schwerer wirkt, dass sie sich auch deutlich von Assanges Rechtfertigung, es müsse sich bei den Vorwürfen gegen ihn um eine von Washington organisierte Schmutzkampagne handeln, distanziert. Einerseits glaube sie nicht an die Vergewaltigungsvorwürfe, andererseits habe sie auch keinen Grund, an den Angaben der beiden Frauen zu zweifeln. Jónsdóttir: „Ich sehe mich selbst als Julians Freund. Aber gute Freunde sind die Leute, die dir sagen, dass dein Gesicht schmutzig ist.“ Und sie hat ihre Theorie, wie es zu den Vorwürfen gegen Assange gekommen sein könnte: „Julian ist in vielen Dingen brillant, aber er hat keine sehr gute soziale Kompetenz.“ Denn er sei halt ein „typischer Australier“ und deshalb „auch ein Stück weit Chauvinist“.

Aber geht es hier wirklich um „kulturelle Missverständnisse“ bei der Begegnung mit den beiden Schwedinnen? Da die Anklagen gegen Assange nach wie vor nicht öffentlich sind und – laut seiner eigenen Aussage – bislang nicht einmal ihm selbst voll bekannt, läuft nicht nur die schwedische Blogger-Szene heiß und spekuliert wild darüber, was eigentlich genau vorgefallen ist.

Das Verwirrspiel der letzten Tage – ein Haftbefehl wurde nach wenigen Stunden wieder einkassiert, die Angaben der zweiten Frau strafrechtlich auf bloße Belästigung reduziert, worauf nach Beschwerden des Anwalts der beiden Frauen wiederum wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung ermittelt wird – durchschaut mittlerweile niemand mehr.

War der Sex einvernehmlich, aber gegen den Willen der einen Frau ungeschützt? Teile des an die Medien durchgesickerten polizeilichen Verhörprotokolls mit Assange, bei dem es um mehrfachen Geschlechtsverkehr und die Frage des jeweiligen Gebrauchs oder Nichtgebrauch von Kondomen geht, sollen für diese Version sprechen. Assange selbst beteuert, keine Gewalt, „weder in Wort noch Handlungen, nichts, was man so auslegen könnte“, angewendet zu haben. Außerdem hat er mittlerweile seinen Anwalt gewechselt; Begründung: Der von ihm zunächst beauftragte 72-jährige Promi-Strafverteidiger Leif Silbersky engagiere sich nicht ausreichend genug für seinen Fall.

In einem Interview mit der Agentur AFP wiederholte Assange gestern darüber hinaus den Vorwurf, das Ganze sei ein „abgekartetes Spiel“, das möglicherweise von den beiden Frauen und der schwedischen Boulevardpresse inszeniert werde und „ein persönlicher Rachefeldzug“ sei. Der US-Geheimdienst könne jedenfalls „sehr glücklich“ sein, über das, was sich gerade abspiele – schließlich verzögern sich laut Assange nun die eigentlich längst angekündigten Veröffentlichung neuer Dokumente zu Afghanistan bei Wikileaks.

„Die, die Stimmung gegen uns machen, benutzen das natürlich, um dem Ruf von Assange und Wikileaks zu schaden“, sagt auch Birgitta Jónsdóttir: Drei Worte seien da „verknüpft worden: Julian – Wikileaks – Vergewaltigung.“ Nur: Auf die Aufforderung der Isländerin, seine Position als Wikileaks-Sprecher zu räumen, hatte Assange bis zum gestrigen Nachmittag bei aller Freundschaft nicht reagiert.