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Archiv-Artikel

Terror am Tiber

Rom, 24. August 410. Die Barbaren erobern die Stadt, verbreiten Angst und Schrecken. Die Zeitgenossen sind sich einig: Nichts würde nach diesem Tag mehr so sein wie zuvor. Die Kette militärischer Interventionen sollte fortan nicht mehr abreißen. Trotzdem war die Sicherheit des Imperiums weniger denn je garantiert

VON RALPH BOLLMANN

Nur kurz hatten die Barbaren die Stadt belagert und von der Versorgung mit Nahrungsmitteln abgeschnitten. Dann hielt es die christliche Senatorenwitwe Proba aus Mitleid mit der hungernden Bevölkerung für besser, die Angreifer in die Stadt zu lassen und ein Ende mit Schrecken herbeizuführen. Bei Nacht öffnete sie die Porta Salaria, die in nächster Nähe ihres Palastes auf dem Monte Pincio lag. Plündernd und brandschatzend zogen die gotischen Söldner des antiken Warlords Alarich durch die Stadt, verbreiteten Angst und Schrecken, lateinisch terror. Drei Tage lang blieben die Goten in der Stadt, dann zogen sie nach Süden weiter.

Die Ereignisse dieses 24. August haben Zeitgenossen und Nachgeborene in ähnlicher Weise beeindruckt, wie es in moderner Zeit wohl nur der Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 tat. Hätten die Barbaren lediglich eine der Kaiserresidenzen in Ravenna, Mailand oder Trier attackiert, was in der Spätantike oft genug vorkam, wäre das ebenso schnell vergessen gewesen wie nach dem 11. September der Anschlag auf das Verteidigungsministerium am US-Regierungssitz Washington.

Dabei hatte Rom längst keine politische Bedeutung mehr. Die Kaiser besuchten die Stadt nur noch selten, und der weströmische Senat, der zu seinen Sitzungen noch immer in der Kurie auf dem Forum Romanum zusammentrat, führte neben dem fernen Hof allenfalls ein Schattendasein.

Aber Rom war ein Symbol. Hier, zwischen den sieben Hügeln, war der Sage nach im Jahr 753 v. Chr. das Gemeinwesen gegründet worden, dessen Zivilisation die mediterrane Welt über Jahrhunderte dominieren sollte. Von hier war jenes Imperium ausgegangen, das verfassungsrechtlich bis zum Schluss in den alten Formen des Stadtstaates organisiert war. Mit seiner Bevölkerung, die nach modernen Schätzungen rund eine Million Menschen umfasst haben dürfte, war Rom noch immer die größte Stadt des Reichs. Mit ihren Tempeln, ihren kulturellen Einrichtungen, ihrem wirtschaftlichen Wohlstand war sie für Anhänger wie Gegner das Sinnbild einer ganzen Zivilisation – in ähnlicher Weise wie New York für die moderne westliche Kultur. Es war das Symbol für einen Lebensstil, der den Zeitgenossen als Höhepunkt und Vollendung der Weltgeschichte galt.

Der Stadt selbst und ihren Bewohnern gelang es dank eines staunenswerten Überlebensmuts überraschend schnell, über den Schicksalsschlag hinwegzukommen. Die Schäden wurden ausgebessert, das Alltagsleben der Millionenbevölkerung ging weiter. Die Spektakel in den Theatern, im Kolosseum, im Circus Maximus wurden wiederaufgenommen, die Infrastruktur wiederhergestellt. Das Wasser aus den Aquädukten floss weiter, die großen Thermen des Trajan, des Caracalla, des Diokletian blieben in Betrieb. Nein, nicht die physischen Zerstörungen machen das Ereignis relevant – die ungezählten Opfer des Jahres 410 so wenig wie die 3.000 Toten von Ground Zero. Der Terror wirkte auf die Psyche, auf das Selbstbild des Imperiums. Obwohl der antike „Sacco di Roma“ den Alltag der Römer und erst recht der übrigen Reichsbewohner nicht nachhaltig veränderte, galt er schon den Zeitgenossen als Epochenwende. Nichts würde nach dem 24. August 410 mehr so sein wie zuvor, lautete das ausgesprochene oder unausgesprochene Credo christlicher wie altgläubiger Interpreten.

„Die Stimme stockt mir, und vor Schluchzen kann ich nicht weiterdiktieren“, klagte der Kirchenvater Hieronymus (um 345–419). „Die Stadt Rom, die zuvor die ganze Welt besiegt hatte, ist eingenommen.“ Alsbald verlagerte sich die Diskussion auf die Ebene der Zivilisationskritik, wurde die Religion als Argument bemüht und ein antiker Kampf der Kulturen ausgerufen. Nachdem der erste Schock vorüber war, begann der Streit, worauf der römische Niedergang denn nun zurückzuführen sei. Die naheliegende Antwort lautete: auf die Abkehr von den alten Göttern und ihren universalen Werten, die Roms einstige Größe ausgemacht hatten – das antike Pendant zu den westlichen Werten, zu den Idealen von Aufklärung und Französischer Revolution. In dieser Perspektive war es die monotheistische Wende unter den Kaisern Konstantin und Theodosius, die Hinwendung zu einer Ideologie der Abgrenzung, die Rom in eine Krise geführt hatte wie der konservative Fundamentalismus eines Ronald Reagan oder George W. Bush das moderne Amerika.

Das Lager der religiösen Fundamentalisten bewertete die Lage naturgemäß völlig anders. Der Kirchenvater Augustinus (354–430) arbeitete, von den Ereignissen des Jahres 410 angeregt, in den folgenden Jahrzehnten an seinem Hauptwerk „Vom Gottesstaat“ (413 bis 426). Was Augustinus vorlegte, war eine Generalabrechnung mit der Geschichte des angeblich so dekadenten Rom, wie sie ein fanatischer Islamist über die Verderbnis des Westens heute nicht besser formulieren könnte. Alles, was während der vorausgegangenen Jahrhunderte „gegen die Herrsch-, Ruhm- und Habsucht der Römer vorgebracht worden war, findet sich hier noch einmal versammelt“, schreibt der Philologe Manfred Fuhrmann. „Der Romglaube, der Heiden und Christen gemeinsame Reichspatriotismus, der Stolz auf eine angeblich gerechte Herrschaft und eine angeblich segensreiche Weltzivilisation wird entlarvt und als lügnerische Ideologie erwiesen.“

In Bezug auf die historischen Fakten holte sich Augustinus fachkundige Schützenhilfe bei dem spanischen Theologen Orosius, der im Auftrag des Kirchenvaters eine „Weltgeschichte gegen die Heiden“ schrieb. Das Ergebnis war „eine negative Weltgeschichte von grandioser Einseitigkeit“. Orosius malte die römische Geschichte bis zur Durchsetzung des Christentums in derart dunklen Farben aus, dass die christliche Gegenwart trotz aller Misslichkeiten als die beste aller Welten erscheinen musste. Das negative Bild Roms und seiner Dekadenz, das diese kirchlichen Autoren zeichneten, prägt bis heute die Sicht auf das Imperium Romanum – und auf Imperien ganz allgemein.

Der 24. August 410 war ein solcher Schock, weil er den Zeitgenossen erneut und drastischer als alle Ereignisse zuvor vor Augen führte, dass die Politik die innere und äußere Sicherheit des Imperiums weniger denn je garantieren konnte. Jahrhundertelang war die gesamte auswärtige Politik Roms darauf ausgerichtet, ein solches Ereignis eben gerade zu verhindern. 800 Jahre zuvor hatte ein ähnlich traumatischer Anschlag am Beginn des römischen Aufstiegs zur Weltmacht gestanden. Im Sommer des Jahres 387 v. Chr. war der Gallier Brennus mit seinen irregulären Truppen brandschatzend durch Rom gezogen. Eine Besetzung des Kapitolshügels konnte angeblich nur durch den Weckruf der „kapitolinischen Gänse“, deren Geschnatter die Bevölkerung der Stadt vor den Eindringlingen warnte, verhindert werden.

Dieses Ereignis sollte die römische Außenpolitik prägen, die fortan durch ein extremes Bedürfnis nach Sicherheit gekennzeichnet war. Wir belächeln heute gern die Begründungen, die der Stadtstaat am Tiber für seine Expansionskriege gab: Stets waren die Römer von außen bedroht, stets mussten sie sich in immer neuen Präventivkriegen gegen künftige Bedrohungen zur Wehr setzen – bis sie sich am Ende, ganz gegen ihren Willen, ein Weltreich zusammenverteidigt hatten. Blickt man auf die Geschichte der USA, zeigt sich allerdings ein ganz ähnliches Muster. Oft genug haben die USA sogar versucht, sich aus den Verwicklungen der Alten Welt wieder in ihre Splendid Isolation zurückzuziehen, was sich am Ende aber als undurchführbar erwies.

Die Konflikte der Aufstiegsphase entsprachen noch dem Muster klassischer Staatenkriege. Die Aufgabe, die Sicherheit eines weltumspannenden Imperiums zu garantieren, stellt die Politik allerdings vor ganz andere Herausforderungen. Eine gleichrangige Macht, mit der ein symmetrischer Konflikt nach klassischem Muster auszutragen wäre, ist in der neuen Ordnung gar nicht mehr vorhanden. Das bedeutet nicht, dass es unter den Bedingungen der Pax Romana oder der Pax Americana nicht mehr zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Ganz im Gegenteil. Selbst in den Zeiten der unangefochtenen Vorherrschaft Roms hat es zumindest an der Peripherie fast immer Kriege gegeben.

In der Blütezeit des Imperiums bekamen diese Konflikte jedoch eine neue Qualität. Ausgerechnet mit Marc Aurel (161–180), der bis heute mit seinem Standbild auf dem römischen Kapitolshügel als „Philosoph auf dem Kaiserthron“ die Glanzzeit des Imperiums wie kein anderer verkörpert, nahm die Zeit des immerwährenden Krisenmanagements ihren Anfang. In der zweiten Hälfte der 160er-Jahre überschritten die Markomannen, zuvor auf dem Gebiet des heutigen Böhmen ansässig, erstmals die Donau. Mit dem Ereignis, das manchen Historikern bereits als Beginn der germanischen Völkerwanderung gilt, begann eine Phase der Instabilität in den Gebieten jenseits der Grenzen. Die Serie der römischen Militäreinsätze out of area riss fortan nicht mehr ab.

In wiederholten Expeditionszügen suchte Marc Aurel, die Stabilität an den Grenzen des Imperiums wiederherzustellen. Diese „strategischen Schläge“ verliefen in der Realität weitaus weniger „chirurgisch“, als es die offizielle Propaganda auf den stadtrömischen Triumphzügen suggerierte. Es war ein drastisches, zugleich aber sehr geglättetes Bild von der Niederwerfung der Barbaren, das die Bevölkerung der Hauptstadt den Bildern der Marc-Aurel-Säule auf dem Marsfeld entnehmen konnte – jener Säule also, die der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi von seinem Amtssitz aus vor Augen hatte, als er sich im Irakkrieg 2003 der amerikanischen „Koalition der Willigen“ anschloss.

„Gerade mit dem Regierungsantritt dieser liebenswürdigen, der Philosophie ergebenen Persönlichkeit“, heißt es in einem gängigen Antikenlexikon über Marc Aurel, „brechen schlagartig Kriege an allen Fronten und sonstiges Unheil über das Reich herein.“ Fast so, wie die Pazifisten der rot-grünen Bundesregierung kurz nach ihrem Wahlsieg 1998 über den ersten bundesdeutschen Kriegseinsatz im Kosovo zu entscheiden hatten. Mit den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien erlebte der Westen erstmals jenen Typus von Krisen an einer labilen Peripherie, die für konkurrenzlose Imperien wie das alte Rom oder den modernen Westen typisch sind.

Der Machtanspruch des Imperiums wird durch diese Art von Konflikten zwar nicht unmittelbar bedroht. Mittelbar gehen von der instabilen Peripherie jedoch Gefahren aus, die sich nicht einfach ignorieren lassen. Jene Bereiche außerhalb der imperialen Kernzone, die eine entwickelte politische Organisationsstruktur aufweisen, wie etwa das antike Persien oder das moderne China, erweisen sich dabei trotz der latenten Machtkonkurrenz als eher unproblematisch. Schwieriger ist der Umgang mit jenen Gebieten, in denen eine politische Organisation oder moderne Staatlichkeit nicht oder nicht mehr existiert.

Eine verstärkte Zuwanderung von Armuts- und Bürgerkriegsflüchtlingen ist dabei nur eine der möglichen Auswirkungen auf das Imperium selbst. Die zweite Gefahr besteht im Export von Gewalt und terroristischer Bedrohung. Bereits in der Zeit Marc Aurels drangen einzelne Gruppen von Barbaren bis nach Italien vor und versetzten die dortige Bevölkerung in Angst und Schrecken. In der Moderne sind es die failing states der Dritten Welt, in denen Ausbildungslager für Terroristen entstehen.

Den Bestand des Imperiums bedrohen diese Gefahren weniger militärisch als politisch. Die politische Ordnung legitimiert sich gegenüber den eigenen Bürgern in erster Linie durch die Garantie von innerer und äußerer Sicherheit. Ökonomischer Wohlstand und gesellschaftliche Komplexität der entwickelten Gesellschaften könnten ohne diese Stabilitätsgarantie nicht sichergestellt werden. Das war der Kern der politischen Integrationsideologie in der römischen Kaiserzeit, seit der erste Princeps die Pax Augusta ausgerufen hatte. In der Gegenwart ist der Stellenwert dieser Frage kaum geringer. Das zeigt schon die Sorgfalt, mit der deutsche Regierungschefs genau jene Kandidaten für das Amt des Innenministers auswählen, die mit ihrem harschen Auftreten und ihren kompromisslosen Positionen das beruhigende Gefühl völliger Sicherheit vermitteln.

Der Vergleich mit Rom ist dabei beruhigend und erschreckend zugleich. Beruhigend, weil das römische Reich nach den Markomannenkriegen Marc Aurels im Westen noch rund drei Jahrhunderte Bestand hatte. Erschreckend, weil die Kette der peripheren Konflikte und militärischen Interventionen während dieser drei Jahrhunderte nie mehr abriss. Allenfalls wurden die Probleme an der Peripherie zeitweise von der inneren Krise des Imperiums überdeckt. Das galt vor allem für die Epoche der Soldatenkaiser im 3. Jahrhundert, als das politische Spitzenpersonal fast im Jahresrhythmus wechselte und blutige Konflikte im Innern ausgetragen wurden. Die Leidtragenden waren nicht nur die Bürger des Imperiums selbst, sondern auch die Bewohner des Barbaricums. Während Rom an der Peripherie sonst als Ordnungsmacht auftrat, verwüstete die Soldateska der verschiedenen Bürgerkriegsparteien nun ganze Landstriche.

Als sich die Verhältnisse innerhalb des imperialen Kernraums im 4. Jahrhundert wieder konsolidiert hatten, setzten die Kaiser auf dem Feld der Sicherheitspolitik vor allem auf zwei Instrumente: auf Geld und auf barbarische Söldner. Die Geldzahlungen an die ethnischen Gruppen außerhalb des Imperiums sollten diese von der Einwanderung ins Reich abhalten und das dortige Gewaltpotenzial mindern. Das wohlverstandene Eigeninteresse des Imperiums stand also schon damals am Beginn der „Entwicklungshilfe“. Nicht ohne Grund bediente sich das alte Rom wie der moderne Westen des Geldes als wichtigsten Mediums zur Steuerung von globalen Prozessen. Während der Einsatz von nackter Gewalt tendenziell allen Akteuren zu Gebote steht, hat in monetären Fragen das Imperium die alleinige Verfügungsgewalt. Es prägt die Münzen und gibt die Währungen aus, die den globalisierten Wirtschaftskreislauf weit über die Grenzen des Imperiums hinaus bestimmen. Auch und gerade in den unterentwickelten Regionen des Barbaricums sind Dollar, Euro oder Sesterz das Maß aller materiellen Dinge.

Zweites Instrument zur Herstellung äußerer Sicherheit sind schließlich Berufsarmeen, die sich überwiegend aus Zuwanderern rekrutierten. Manche Historiker haben geglaubt, die Abkehr von der Wehrpflicht sei der angeblichen „Dekadenz“ einer durch viele Jahre des Friedens „verweichlichten“ Bevölkerung entsprungen. Doch ist die Abneigung, die Angehörige hochentwickelter Gesellschaften gegen alles Militärische empfinden, durchaus ein zivilisatorischer Gewinn. Überdies erfordert der Charakter der imperialen „Friedensmissionen“ keine Wehrpflichtigen, sondern ausgebildete Berufssoldaten. Kriege auf heimischem Boden gegen italische Bundesgenossen mochten sich noch mit einer Armee aus römischen Bürgern führen lassen. Truppenkontingente, die jahrzehntelang in den entlegensten Regionen Germaniens stationiert waren und mit den dortigen Gegebenheiten vertraut sein mussten, ließen sich auf diese Weise ebenso wenig rekrutieren wie heute die Spezialtruppen für Einsätze im Kosovo, in Afghanistan oder gar im Irak. Kurzzeitig entsandte Wehrpflichtige aus den Metropolen des Mittelmeerraums hätten bei solchen Einsätzen out of area wenig ausrichten können.

Die gezielte Verwendung römischen Geldes und römischer Berufssoldaten stellte die äußere Sicherheit des Imperiums über Jahrhunderte zumindest leidlich sicher. Auf ganzer Linie scheitern tat dagegen die Politik der Nonproliferation, der Nichtverbreitung römischer Waffentechnologie. Rom hat die Barbaren, die später das dezimierte Erbe des antiken Imperiums antreten sollten, erst mit dem nötigen militärischen Know-how ausgestattet. Das war schon deshalb unvermeidlich, weil eine erfolgversprechende imperiale Politik auf eine Kooperation mit auswärtigen Machthabern stets angewiesen war. Solche Bündnisse waren allerdings oft flüchtig, bei einem Wechsel der politischen Konstellation konnte sich solch ein zweifelhafter Freund leicht wieder in einen Feind verwandeln – wie das moderne Beispiel des irakischen Staatschefs Saddam Hussein zeigt.

Nicht allein die äußere, auch die innere Sicherheit unterliegt in einem entwickelten Imperium anderen Bedingungen als in weniger komplexen Ordnungen. Gesellschaftliche Prozesse entziehen sich in einer globalisierten Welt zunehmend der Steuerung und Kontrolle durch politische Instanzen. Im Gegenzug versuchen dann die Gesetzgeber, diese Entwicklung durch die stete Verschärfung von Regeln und immer ausgefeiltere Überwachungsmethoden in den Griff zu bekommen.

Die daraus resultierende Intensivierung der Gesetzgebung seit Diokletian (284–305) hat Historiker dazu verleitet, von einem spätrömischen „Zwangsstaat“ zu sprechen. Von der Kriminalitätsbekämpfung über die Regulierung der sozialen Ordnung bis hin zu Eingriffen ins Wirtschaftsleben erließen die römischen Kaiser, die sich aus diesen Bereichen zunächst weitgehend herausgehalten hatten, immer detailliertere Gesetze. Bei näherer Betrachtung relativiert sich die Vorstellung vom angeblichen „Zwangsstaat“ allerdings schnell. Für das 4. Jahrhundert schätzt man die Gesamtzahl der Zivilbeamten innerhalb des Imperiums auf etwa 30.000, während die ebenfalls sehr groben Schätzungen über die Größe der Reichsbevölkerung im Schnitt bei etwa 50 Millionen Menschen liegen. Bezogen auf die Einwohnerzahl, sind im Deutschland der Gegenwart rund 200-mal so viele Menschen im öffentlichen Dienst beschäftigt. Die römische Verwaltungsstruktur war also das, was wir heute mit der Vokabel „schlank“ bezeichnen würden.

Eine Polizei im modernen Sinn gab es nicht. Unklar ist die genaue Funktion der irenarches, die insbesondere in den Städten des Ostens offenbar die öffentliche Sicherheit garantieren und eine Art Polizeifunktion ausüben sollten. Theodosius II. verbot diese Institution 409 als gemeingefährlich. Das legt den Verdacht nahe, dass es sich um eine Art Bürgerwehr handelte, die das staatliche Gewaltmonopol im Zweifel eher untergrub als stützte – wobei wiederum bezeichnend ist, dass diese Bürgerwehren trotz des Verbots weiterexistierten.

Das Bedürfnis nach einer solchen Institution entsprach offenbar einem verbreiteten Gefühl der Unsicherheit. Wer bei Dunkelheit auf den Straßen der Hauptstadt unterwegs sei, riet schon der Satiriker Juvenal (ca. 60–140 n. Chr.), der solle lieber keine Wertsachen mit sich führen: „Nur weniges Geschirr aus glattem Silber magst du bei dir tragen, wenn du nachts eine Reise antrittst, doch wirst du dich vor Schwert und Spieß fürchten und zittern vor dem Schatten des im Mondenschein bewegten Schilfrohrs.“ Solche Hinweise finden sich in den Quellen wiederholt. Aus den Erfahrungen der Gegenwart wissen wir allerdings, dass derlei Ängste keineswegs mit der tatsächlichen Kriminalitätsrate korrelieren mussten.

Im Vergleich zu den Jahrhunderten davor und danach garantierte das Römische Reich der Bevölkerung des Mittelmeerraums jedoch ein extrem hohes Niveau an Sicherheit und Bewegungsfreiheit. Das galt nicht nur innerhalb der Städte, sondern auch auf den Landstraßen und Seewegen. Während der Blütezeit des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts mochte es höchstens noch ein paar entlegene Bergregionen geben, in die ein Reisender seinen Fuß besser nicht setzte – heute würden wir von „No-go-Areas“ sprechen. Mochte auch in der Antike nur eine kleine Oberschicht aus Vergnügungsgründen reisen und das Tempo der Fortbewegung deutlich hinter dem heutigen zurückbleiben, so erinnert manche Reisebeschreibung doch an die Gepflogenheiten des modernen Individualtourismus. Anders, als die wohlfeile Kritik an einer touristischen „Vollkaskomentalität“ suggeriert, dürfen die Bürger eines Imperiums durchaus erwarten, dass sie sich innerhalb seines Machtbereichs sicher bewegen können. Rom hat dieses Versprechen über lange Zeiträume seiner Geschichte eingelöst.

Mit zunehmender Dauer des Imperiums begann die innere Sicherheit jedoch zu schwinden. Im Fall Roms werden diese Probleme zumeist mit der Ära der rasch wechselnden Soldatenkaiser im 3. Jahrhundert in Verbindung gebracht, die einen rapiden Verfall der öffentlichen Ordnung mit sich gebracht habe. Der Vergleich von altem Rom und modernem Westen legt allerdings den Verdacht nahe, dass wachsende Inseln der Unordnung eine fast zwangsläufige Begleiterscheinung der imperialen Ordnung darstellen. Nachdem sich der alte Gegensatz von innen und außen aufgelöst hat, verlagert sich der Gegensatz von sicher und unsicher in den Binnenraum des Imperiums.

Im Fall des römischen Reichs lässt sich das schon rein äußerlich daran ablesen, dass sich die Städte im Herzen des Imperiums nun plötzlich wieder mit Stadtmauern umgaben, nachdem sie lange Zeit ohne jede Form von Befestigung ausgekommen waren. Das spektakulärste Bauwerk dieser Art ist die Aurelianische Stadtmauer in Rom, die mit ihrer Länge von 18 Kilometern den gewaltigen Umfang der antiken Metropole noch heute im Stadtbild sichtbar macht. Städte wie Mailand oder Verona umgaben sich gegen Ende des 3. Jahrhunderts mit ähnlichen Bauwerken. Sie waren das äußerlich sichtbare Zeichen, dass die Bevölkerung dieser Städte der Pax Romana nicht mehr traute.

Zwar waren die Übergriffe von Barbaren auf das Reichsgebiet zu jener Zeit noch weit davon entfernt, den Bestand des Imperiums ernsthaft gefährden zu können. Eine Bedrohung des Sicherheitsgefühls waren sie gleichwohl, und damit bedrohten sie die Legitimation des politischen Systems. Die Mauern sollten den Bewohnern dieses Gefühl von Sicherheit zurückgeben. Mit den technischen Mitteln der Epoche erfüllten sie dieselbe Funktion wie heute die Videoüberwachung von Fußgängerzonen oder biometrische Kontrollen an den Grenzen.

Zunächst waren es die ohnehin schwer kontrollierbaren Bergregionen, von denen die größten Gefahren ausgingen. Dort war das zivilisatorische Netz des römischen Städtewesens seit je dünn geknüpft. Besonders berüchtigt waren im 4. Jahrhundert die Banditen aus Isaurien, einer schwer zugänglichen Bergregion auf dem Gebiet des heutigen Anatolien. „So kamen auch sie wie ein Sturmwind von ihren unzugänglichen und steilen Bergen herab“, klagte etwa der antike Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus. „Hier blockierten sie die Straßen mit dichten Sperren und nährten sich von den Gütern der Provinzbewohner und Reisenden.“ Eine wirksame Bekämpfung dieses Phänomens, so Ammianus, sei in den unwegsamen Bergregionen kaum möglich. Der Historiker Brent D. Shaw spricht von einer „latenten Anarchie“ auf dem Lande, bedingt durch „das Fehlen von modernen Kommunikationsmitteln, die schlechte Beleuchtung bei Nacht, eine dünn besetzte und korrupte Lokalverwaltung, ungenügende Ordnungskräfte und andere derartige Defizite“.

Das Versagen des Staates führte schon im Altertum zu einer Privatisierung von Sicherheit. Nicht nur die Städte umgaben sich mit Mauern. Die reichen Mitglieder der römischen Senatorenschicht ließen ihre üppigen Landsitze befestigen und in eigener Regie bewachen, ganz so, wie sich heute große Firmen der Dienste privater Sicherheitsunternehmen bedienen oder wohlhabende Amerikaner in die gated communities abgeschotteter Stadtviertel flüchten. Nicht selten kam es zu Abmachungen mit den örtlichen „Briganten“, jenen Kleinkriminellen also, von denen die Bedrohung der Sicherheit doch eigentlich ausging.

Die ländlichen Mittel- und Unterschichten sahen sich zusehends genötigt, sich in den Schutz der Großgrundbesitzer und deren informeller Macht zu begeben, die sich längst außerhalb von altrömischer Verfassung und Institutionen bewegte. Unter dem Niedergang des Imperiums litten vor allem die sozial Schwächeren, während die Reichen in dem entstehenden Vakuum ihren Einfluss sogar ausbauen konnten. Damit begann die Geschichte der mittelalterlichen Grundherrschaft, deren Grundstruktur in vielen europäischen Ländern bis ins 19. Jahrhundert erhalten blieb. Nach heutigem Sprachgebrauch könnte man in Bezug auf das spätrömische Klientelsystem geradezu von mafiosen Strukturen sprechen, die sich dort ausbreiteten, wo die verfassungsmäßigen Institutionen versagten – ein Phänomen, das sich zuletzt in einigen postkommunistischen Ländern beobachten ließ.

Der Staat reagierte auf die offenkundige Schwächung seines Einflusses mit umso schärferen Sanktionen, die nur in Einzelfällen exekutiert werden konnten. Historiker sprechen von einer Brutalisierung des Strafrechts. Beweise spielten bei der Verurteilung eine immer geringere Rolle, die Todesstrafe wurde immer öfter verhängt und auf immer grausamere Weise vollstreckt – ganz ähnlich, wie die Rechtsprechung der Gegenwart in Deutschland wie in anderen Industriestaaten auf ein diffuses Gefühl der Unsicherheit mit der Verhängung immer längerer Haftstrafen reagiert, die in jüngster Zeit den verstärkten Neubau von Gefängnissen erforderlich machten.

Edward Gibbon berichtet von grausamen Hinrichtungen unter den Kaisern Valentinian und Valens in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Sie glaubten, so der liberale Brite mit deutlicher Abscheu, dass „ein Untertan nicht länger zu leben verdiene, wenn sein Leben entweder die Sicherheit seines Souveräns bedroht oder dessen Ruhe störe“. Und weiter über Valentinian: „Die Ausrufungen, die dem Kaiser am häufigsten entfuhren, waren: Haut ihm den Kopf ab! – Verbrennt ihn lebendig! – Schlagt ihn mit Keulen tot!“

Solche Episoden erscheinen nur auf den ersten Blick als neuerliche Belege für die These vom „Zwangsstaat“. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Politik in Mailand und Konstantinopel vor allem deshalb so harsche Exempel statuierte, weil ihr die Kontrolle in der Breite zusehends entglitt. Das Problem ist aus der Gegenwart vertraut: In komplexen Gesellschaften erscheint es immer schwieriger, Rechtsvorschriften durchzusetzen, die in der Bevölkerung nur wenig Akzeptanz finden. Die Politik reagiert darauf mit immer neuen und detaillierteren Regelungen, die dann wiederum noch weniger Beachtung finden.

Kontrollen sind nur noch in Einzelfällen möglich, die entsprechenden Sanktionen erscheinen dem Publikum dann folgerichtig als willkürlich, was die Akzeptanz des einschlägigen Gesetzes weiter schmälert. Ein klassisches Beispiel für diesen Mechanismus ist der Umgang der italienischen Politik mit illegalen Bauten. Sie werden massenhaft geduldet, bis dann plötzlich bei einem einzelnen Bauherrn der staatliche Abrissbagger auf dem Grundstück steht. Die Sympathie der lokalen Öffentlichkeit gilt dann meist eher dem Gesetzesbrecher als der Polizei, deren Verhalten kaum nachvollziehbar erscheint.

So deutet die ständige Wiederholung immer gleicher Rechtsvorschriften, wie sie sich in den antiken Quellen vor allem des 4. Jahrhunderts findet, keineswegs auf den autoritären oder gar totalitären Durchgriff eines „Zwangsstaates“ hin. In der Realität war wohl eher das Gegenteil der Fall: Rechtsvorschriften mussten stets aufs Neue erlassen werden, weil das vorausgegangene Gesetz keine Beachtung fand.

Das Aufrechterhalten von politischer Kontrolle, die Gewährleistung von innerer und äußerer Sicherheit bleiben unter den Bedingungen einer imperialen Ordnung stets ein dynamischer Prozess, der niemals endgültig zum Abschluss kommt. An welchem Punkt dieser Entwicklung der Westen heute angekommen ist, bleibt eine offene Frage: Lässt sich der 11. September 2001 mit der gallischen Attacke auf Rom im Jahr 387 v. Chr. vergleichen, die erst den Anstoß gab zum Aufbau eines weltumspannenden Imperiums in präventiver Absicht? Oder entsprach er doch eher dem gotischen Angriff des Jahres 410 n. Chr.? Selbst im zweiten Fall wäre das Ende des Imperiums noch keineswegs ausgemacht. Während der langen Geschichte Roms hat sich oft genug gezeigt, dass eine kluge Politik das Gleichgewicht zwischen der imperialen Ordnung und dem Chaos einer komplexen Gesellschaft wie auch zwischen Imperium und Barbaricum stets aufs Neue herstellen kann.

RALPH BOLLMANN, 37, ist Leiter des taz-Inlandressorts und lebt in Berlin