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Archiv-Artikel

Vergangener Rausch

GESICHTE Im Depot des Münchner Stadtmuseums lagern die Schaustellerpuppen vergangener Wiesn-Tage. Zum 200. Jubiläum des Oktoberfests hat unser Fotograf die Figuren besucht.

Von Pappe

Die Figuren: In einer ehemaligen Fabrikhalle bewahrt das Münchner Stadtmuseum hunderte ausrangierte Wiesnfiguren auf. 200 Jahre gibt es das Fest, gerade läuft die Ausstellung „Das Oktoberfest 1810–2010“.

Der Fotograf: Volker Derlath, 50, ist Straßen- und Theaterfotograf in München. Er sagt: „Der Ort hat ein eigenes Flair. Ich dachte: Wenn jemand nachts das Licht ausmacht, könnten die Puppen anfangen zu leben.“

VON FLORIAN NAUMANN (TEXT) UND VOLKER DERLATH (FOTOS)

Ein gut Teil ihres Lebens haben sie täglich im Blickpunkt des rauschendsten Festes ihrer Heimatstadt gestanden. Haben jeden Festabend mit stoischer Gelassenheit das Treiben der trunkenen Feiernden überblickt. Oder allzu arglose Touristen mit Furcht einflößenden Grimassen verschreckt. Sie sind wahre Urmünchner also.

Mit dem Rummel ist es für diese Originale aber schon lange vorbei: Verstaut zwischen den Regalen des Münchner Stadtdepots, verbringen zahllose abgelegte Schaustellerpuppen des Oktoberfests einen geruhsamen Lebensabend. Die noch langsam blinkende Festbeleuchtung früherer Jahrzehnte haben sie eingetauscht gegen kaltes Neonlicht.

Die Fotos der ausrangierten Puppen lassen ahnen: Das alte München war dem neuen nicht unähnlich. Hölzern, solide aufgeputzt – und oft nur Fassade. Aber auch anders: Weniger Lärm und Glitzern. Etwas unbeweglicher.

Denn so wesensfremd die stille, sterile Umgebung der Lagerhalle den alten Holz- und Pappkameraden auch ist: Ob sie ihr Fest zum – am kommenden Samstag beginnenden – 200. Jubiläum wiedererkennen würden, ist fraglich. Das Kreischen der vom siebzig Meter hohen „Power Tower“ in die Tiefe rauschenden Teenager gab es nicht zu ihrer Zeit, nicht das Gewirr der sich in fremden Sprachen überschlagenden Stimmen in den Zelten oder den naturgewaltigen Anblick der durch die Gassen drängenden Menschen … Auch nicht die zwei polizeilich kontrollierten Sicherheitsringe, die die Wiesn im Jubiläumsjahr umschließen werden – dies alles sind Eindrücke einer neuen Zeit.

Das Oktoberfest der Ausrangierten war eines, auf dem die Feiernden in Kettenkarussellen durch den Abendhimmel glitten, statt sich mit der „Rocket“ in eine wenn auch sehr erdnahe Umlaufbahn schießen zu lassen.

Da ist der Blick in das Gesicht des ächzend schwitzenden Trachtlers oder in das des ausrangierten „Münchners im Himmel“ ein Blick in die Realität eines untergegangenen München. In jenes, in dem eine Maß 2,80 Mark kostete und im „Keferloher“ herangeschleppt wurde, einem irdenen Krug, dem famose Nahkampf-, aber verbesserungswürdige Hygieneeigenschaften nachgesagt wurden. Der Blick in eine Zeit, in der München echte Arbeiterviertel hatte. Und die CSU eine solide Zweidrittelmehrheit im bayerischen Landtag. Aber es behauptet ja auch niemand, früher sei alles besser gewesen.