Die Wut, die bleibt

Immer noch in der Trauerarbeit gefangen: Der Filmregisseur Spike Lee hat über die Katastrophe von New Orleans eine Dokumentation gedreht. „When the leaves broke“ läuft heute im US-Fernsehen

VON TOBIAS MOORSTEDT

Ein Sportstadion ist ein Ort des Gesangs, der Farben und der Euphorie; die amerikanischen Superdomes sind kleine Paradiese, in denen Bier und Ketchup in Strömen fließen. Wenn hier die Lichter ausgehen, weiß man, dass etwas nicht stimmt. In seinem Dokumentarfilm über die Folgen des Wirbelsturms „Katrina“, „When the Leaves Broke“, zeigt der US-Regisseur Spike Lee den Superdome von New Orleans in langen Sequenzen als Flüchtlingslager: 20.000 Menschen ohne Essen, ohne Wasser, ohne Strom; Hades, Ort der Toten. Der Untertitel des Films lautet: „Ein Requiem in vier Akten.“

Jedes Kapitel des vierstündigen Films, den der Kabel-Sender HBO heute, am Jahrestag der Katastrophe, zum ersten Mal in voller Länge ausstrahlt, beginnt mit einem musikalischen Prolog. Fats Dominos „Walking to New Orleans“ wird sogar mehrmals gespielt. Die Stadt erscheint hier nicht nur als Zentrum der afroamerikanischen Kultur, sondern mit ihrer Tradition der Totenmärsche auch in der Lage, selbst den Soundtrack für das Desaster zu liefern. Anders bei den Totenmärschen wie etwa dem bekannten „Oh, didn’t he ramble“, wo die Trauer in eine positiv-festliche Stimmung umgewandelt wird, ist New Orleans aber auch ein Jahr nach der Katastrophe noch in der ersten Phase der Trauerarbeit gefangen: Schock und Wut.

Spike Lee tut alles, dass der Bilderkonsument die Wucht von Katrina und ihren Folgen nicht vergisst. In monatelanger Arbeit hat er TV-Aufnahmen, Privatvideos, Handyfotos und eigene Bilder zu einem vierstündigen Film zusammengeschnitten; sozusagen ein Worst-of des Wirbelsturms. In minutenlangen Sequenzen zeigt er nichts als im Wasser treibende Körper. Es ist das Gegenteil der CNN-Ästhetik, wo die Bilder nur so lange aufblitzen, wie sie keine Wirkung hinterlassen. Spike Lee zeigt die Toten so lange, bis auch der Letzte gemerkt hat, dass die Leichen Nike und GAP tragen, dass dies nicht Bagdad oder Brazzaville ist, „sondern Amerika“, wie immer wieder Interviewpartner erstaunt bemerken.

„When the Leaves Broke“ ist kein sachlicher, argumentativer Film, der Fehler und Versäumnisse der Bush-Regierung zu dokumentieren versucht. Die Einwohner von New Orleans erzählen ihre Geschichte selbst – mehr als 100 von ihnen hat Lee im letzten Jahr interviewt. Geschichten von Menschen, die in ihren Häusern gefangen waren, der Sturm brauste „über dem Dach wie die U-Bahn von New York“, die Wellen klatschten gegen die Mauern und schwemmten das normale Leben Stück für Stück fort. „Am Ende waren drei aus unserer Familie tot“, erzählt Phyllis Montana LeBlanc, „und der Rest war über das ganze Land verteilt.“

Als Katrina vor einem Jahr die Stadt verwüstete, war Spike Lee in Europa. „Ich hing mehrere Tage am Fernseher“, erzählt er gerne in Interviews: „Ich habe sofort realisiert, dass dies ein wichtiger Moment in der amerikanischen Geschichte ist.“ Für Spike Lee war Katrina keine Naturkatastrophe, sondern ein von Menschen gemachtes Desaster, für das – verdammt noch einmal – auch jemand die Verantwortung zu übernehmen hat. In seinem cineastischen J’accuse verkneift er sich nur scheinbar jeglichen Kommentar: Die Montage war schon immer die Stimme des Filmemachers. So zeigt er etwa nach einigen dramatischen Bildern aus New Orleans, wo die Boote die Autos ersetzen, Condolezza Rice am dritten Tag der Katastrophe beim Tennisspielen. Und George W. Bush sieht bei seinen kurzen Interviews immer aus wie ein wandelndes Wahlkampfplakat: Diese hyperreale Figur, die durch die Nachrichtensendungen geistert und gute Laune verbreiten will, zerfällt, wenn sie mit grobkörnigen Videoaufnahmen aus dem Krisengebiet kombiniert wird. Bushs Lob für die Arbeit der Katastrophenschutz-Behörde FEMA – „You did a heck of a job, Brownie“ – zeigt Lee in einem Loop.

Veraltete Deichanlagen, Budgetprobleme, chaotische Evakuierungsmaßnahmen – der größte Skandal von Katrina aber wird in einer Szene deutlich, in der Einwohner von New Orleans die Stadt über eine Brücke verlassen wollen und von Polizeibeamten des (reichen) Nachbarbezirks daran gehindert werden, weil dort Gerüchte über marodierende Gangs und Plünderer die Runde machen. Irgendwann sprechen auch die NBC- und CNN-Reporter von Flüchtlingen und vergessen schnell, dass es sich bei abgehetzten, geschwächten Figuren um amerikanische Bürger handelt, die, wie jemand im Film bemerkt, „doch eigentlich frei auf Amerikas Erde wandeln dürfen“.

Der Film beginnt und endet mit Musik. Während oben der Sturm an der Betonkonstruktion zerrt, marschieren ein paar hundert Menschen im flackernden Licht der Notbeleuchtung durch die Katakomben des Stadions oder, wie sie ihn nennen, den „Dome of the Dead“. Und plötzlich ist in dem Stadion wieder Gesang zu hören. „This little light of mine, let it shine.“ Mit diesen Bildern weckt Spike Lee Assoziationen mit den Demonstrationen der politisch-religiös motivierten Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre. „Mein Film hat kein Ende“, sagt er, „die Geschichte hat gerade erst begonnen.“