piwik no script img

Archiv-Artikel

Fenster zu, wenn Opfer schreien

Ein kleines Heftchen erinnert an das „wilde“ Konzentrationslager Kemna in Wuppertal

In Zeiten wie diesen, in denen allenthalben der berühmte „Schlussstrich“ gefordert wird, der die ständige Rückbesinnung auf das furchtbarste Kapitel deutscher Geschichte beenden und dem Land der Täter endlich zu einer wie auch immer verstandenen „Normalität“ verhelfen soll, ist man dankbar für jeden Stachel im Fleisch des Mainstreams. Die kleine Broschüre „Ich höre noch die Schreie der Geschlagenen“ des Vereins Bergische Zeitgeschichte e.V. ist so eine kleine Widerborstigkeit.

Das 32-Seiten-Heftchen erzählt die Geschichte des Konzentrationslagers Kemna in Wuppertal und erinnert damit an ein Kapitel des Nationalsozialismus, das den meisten Menschen kaum noch etwas sagen dürfte. Wer kennt noch den Begriff der „wilden Konzentrationslager“ wie Kemna, in denen SA und SS schon kurz nach der Machtübernahme 1933 Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und linke Intellektuelle einsperrten, folterten und in vielen Fällen auch ermordeten? Konzentrationslager sind heute für die meisten, zumal die jüngeren Menschen in Nordrhein-Westfalen weit weg: KZs, das sind vor allem die Vernichtungslager in Polen, vielleicht noch zwei, drei der großen Stammlager wie Sachsenhausen, Oranienburg oder Dachau. Wer weiß noch, dass das Lagersystem in Gestalt der über 1.000 Außenlager plus der zahllosen „wilden“ KZs bis vor unsere heutigen Haustüren wucherte?

In Wuppertal und Umgebung war es damals freilich kein Geheimnis, was die zahllosen Regimegegner, die vor allem aus Hückelwagen, Wermelskirchen und Radevormwald kamen, im KZ Kemna zu erleiden hatten. Wie die Broschüre erzählt, wurden viele der über 4.000 Menschen, die bis zur Schließung des Lagers im Januar 1934 auf dem abgelegenen Fabrikgelände eingesperrt waren, mit sichtbaren Misshandlungsspuren entlassen, einige mussten nach den „Verhören“ durch die SA ins Krankenhaus eingeliefert werden. In Radevormwald sollen sogar Fotos der Folterspuren eines Opfers kursiert sein.

Dass das Wissen um die Zustände im Lager von den meisten einfach hingenommen wurde, belegt das Büchlein etwa mit der Aussage des damaligen Wirts des Restaurants „Haus Kemna“, das 500 Meter Luftlinie vom KZ entfernt lag und noch heute existiert: „Die Fenster habe ich sehr oft geschlossen, weil die in meinem Lokal anwesenden Gäste das Wimmern und Schreien der Häftlinge nicht anhören konnten.“ Überhaupt erzählt David Mintert, ein Doktorand der Ruhruni Bochum, dessen Vortrag über das KZ den Text des Heftchens bildet, die Geschichte von Kemna sehr anschaulich. Vor allem die ausführlichere Schilderung einiger Einzelschicksale von Häftlingen gibt auch dem unbedarften Leser ein eindrückliches Bild davon, wie der Naziterror vor Ort auf die Menschen wirkte.

Auch die Bedeutung des Lagers als wichtiger Baustein im regionalen Terrornetzwerk der Anfangszeit des Regimes wird – wenn auch knapp – erklärt. Ebenso wird am Ende kurz die juristische Aufarbeitung nach dem Krieg umrissen. Einziger Kritikpunkt: Die extrem kurze Form, die der Verein Bergische Zeitgeschichte für seine neuste Veröffentlichung gewählt hat, kann dem Thema natürlich in keiner Weise gerecht werden. Aber wie gesagt: In Zeiten wie diesen ist man froh über jede Zeile, die gegen die allfälligen Verdrängungsversuche geschrieben wird. SUSANNE GANNOTT

www. bergische-zeitgeschichte.de