: Du bist al-Qaida
Am Fall der mutmaßlichen Kofferbomber zeigt sich: Der Dschihadismus wird immer diffuser. Die Terrororganisation entfernt sich zunehmend von ihrem Schöpfer Bin Laden
Bei jedem neuen Terroranschlag oder Anschlagsversuch stellen sich die gleichen Fragen: Ist al-Qaida dafür verantwortlich? Wer ist diese al-Qaida heute überhaupt? Wird es der Terrororganisation in den nächsten Jahren gelingen, noch schlimmere Taten zu verüben, vielleicht sogar eine schmutzige Bombe zu zünden? Oder führen Fahndungsdruck und -erfolge dazu, dass die Organisation allmählich zerfällt?
Viele Szenarien sind vorstellbar, zumal es eine Terrororganisation wie al-Qaida bislang nie gegeben hat – ein Umstand, der nicht nur ihre Verfolger verunsichert, sondern auch ihre Sympathisanten.
Wie sehr sich al-Qaida vor allem seit dem 11. September 2001 verändert hat, lässt sich an den beiden mutmaßlichen Zugbombern Youssef Mohamad E. H. und Dschihad H. veranschaulichen: Der Dschihadismus wird immer diffuser. Meist lässt sich bei Anschlägen nur noch eine ideologische Lunte in den Hindukusch zurückverfolgen, so gut wie nie eine Befehlskette. Selbsternannte Dschihadisten haben solche mit Arbeitsverträgen abgelöst. „Du bist al-Qaida“, sagt Ussama Bin Laden heute nur noch – und die Täter erfüllen diese abstrakte Vorgabe nach Gutdünken. Youssef Mohamad und Dschihad wurden mit ziemlicher Sicherheit von keinem Al-Qaida-Kader ausgesandt; dennoch ist davon auszugehen, dass sie von Bin Laden inspiriert waren.
Dieses neue (Nicht-)Verhältnis zwischen Führung und Kämpfern spiegelt eine entscheidende Wandlung al-Qaidas wider. Sie hat sich vor allem mit Hilfe des Internets ihrer Sympathisantenszene geöffnet, diese an das operative Geschäft herangeführt und sich von einer Kaderorganisation zu einem in Teilen virtuellen, intelligenten und kreativen Netzwerk entwickelt. Die Folge sind Instant-Mudschaheddin, die sich selbst rekrutieren, und immer neue Typen von Attentätern, die längst auch schon Konvertiten umfassen. Aber es gibt einen Preis für das Überleben nach 9/11: Wie Frankensteins Kreatur entgleitet al-Qaida ihrem Schöpfer.
Schon jetzt wird der Mainstream dessen, was al-Qaida ist, vor allem in den Debatten im Internet definiert, an denen Bin Laden nur noch indirekt beteiligt ist. Die Frage der kommenden Jahre wird nun sein: Entwickelt sich das Netzwerk zu einer Bewegung weiter, die noch schwieriger zu bekämpfen ist, weil sie noch virtueller wird?
Ja, fürchten die Analysten der US-Militärakademie. Auf der Grundlage von erbeuteten Al-Qaida-Papieren fordern sie, man müsse „sich auf al-Qaidas Transformation von einer Organisation zu einer sozialen Bewegung einstellen“. Al-Qaida versuche, „die lose Koalition von Organisationen, Persönlichkeiten und Ideen, die al-Qaida zu nennen man sich angewöhnt hat, in eine globale revolutionäre Bewegung umzuformen“.
Entgegengesetzter Ansicht ist der französische Islamismusforscher Olivier Roy: „Die ‚Massen‘ werden am Straßenrand stehengelassen, um zuzuschauen, wie al-Qaida eine Art apokalyptisches Videospiel spielt. In diesem Sinne ist al-Qaida eher eine Mafia oder eine Sekte als eine professionelle Untergrundorganisation. […] Islamistische Radikale werden nicht in der Lage sein, stabile und dauerhafte Unterstützerkreise zu finden.“ Bin Laden, schreibt Roy, habe „zum Dschihad aufgerufen, aber er ist gescheitert“.
Bin Laden ein Loser? Gemessen an seinen Drohungen vielleicht, aber nicht an den Toten, die er zu verantworten hat. Roy hat jedoch insofern recht, als für die künftige Erscheinungsform al-Qaidas die Zahl ihrer Sympathisanten genauso wichtig ist wie die der altgedienten Kader. Instant-Mudschaheddin, die vor ihren Anschlägen nie mit einem Al-Qaida-Kader zu tun hatten, und Cyber-Dschihadisten, die mal im Internet und mal in der realen Welt zuschlagen, sind neue Entwicklungen, die sich selbstständig gebildet haben.
Diese neuen Dschihadisten sind jünger, gebildeter und moderner, aber auch unberechenbarer als die Generation Ussama. Sie haben keine Kampferfahrung, aber dafür andere, etwa technische Fertigkeiten. Sie denken vernetzt, weil sie im Internet zu Hause sind. Und sie sind schon dabei, eine neue al-Qaida zu prägen – durch Taten, aber auch durch Onlinedebatten. Es ist möglich, dass al-Qaida bald der Bewegung der Globalisierungskritiker ähnelt, die kein Zentrum hat, aber trotzdem einen politischen Faktor darstellt und internationale Aktionen in großem Maßstab organisieren kann. Auch eine Art Wiki-Qaida ist vorstellbar: ein internetbasiertes Dschihad-Projekt, an dem jeder mitschreiben, mitarbeiten und mitgestalten darf und das zugleich schreckliche Anschläge in der realen Welt durchführt.
Innerhalb al-Qaidas könnten sich ideologische Flügel herausbilden. Anzeichen dafür gibt es schon. Bündnisse würden denkbar: mit den Linken gegen Kapitalisten und die USA, mit den Rechten gegen die Juden. Letztlich beschreibt auch Roy einen Zustand, der gar nicht so weit von diesem Szenario entfernt ist. So glaubt er zum einen, dass „der radikale Islam weniger islamisch werden müsste, um Alliierte zu finden“. Zum anderen konstatiert er: Eines Tages könnte es den radikalen Islamisten gelingen, „Unterstützung unter den europäischen Ultralinken oder bestimmten ‚Befreiungsbewegungen‘ (zum Beispiel ehemalige Baathisten im Irak oder der ETA in Europa) zu finden“.
Allerdings ist der Weg al-Qaidas zur Bewegung nicht der einzig denkbare. Er wird sich nur auftun, wenn das Netzwerk noch mehr Sympathien gewinnt. Darum ist bedeutsam, was die Anschläge von Amman im November 2005 gezeigt haben: Die Sympathiewerte al-Qaidas sind nicht unangreifbar. Die Organisation verliert in der arabischen Welt Anhänger, wenn sie zu brutal und zu willkürlich zuschlägt – nicht etwa, weil sie zu wenige blutige Anschläge verübt. Eine weitere Möglichkeit tut sich auf: Al-Qaida könnte sich durch Brutalität marginalisieren und langsam eingehen.
Entscheiden wird sich die Zukunft al-Qaidas in der arabischen Welt. Denn sie ist im Kern ein Zusammenschluss militanter arabisch-islamistischer Bewegungen, und Kooperationen mit nichtarabischen Islamisten sind immer noch die Ausnahme. Araber bilden zudem noch auf lange Sicht den größten Pool an Nachschub. Man sollte nicht aus dem Blick verlieren, was zur Gründung al-Qaidas und ihrer Vorläufer- und Nachfolgeorganisationen sowie zum steten Zufluss von Kämpfern geführt hat: die Wut über die ja tatsächlich korrupten Regime in der islamischen Welt, die wirklich ungelösten Konflikte von Palästina bis Kaschmir sowie die wahrlich nicht von Arroganz freie Politik der USA im Nahen Osten und anderswo. Solange diese Gründe fortbestehen, wird es militante Islamisten geben. Einige werden Terror als Methode auch künftig gutheißen und al-Qaida unterstützen.
Sicher ist so heute nur eines: Die alte al-Qaida gibt es seit dem 12. September 2001 nicht mehr. Und für die neue al-Qaida gibt es keinen Präzedenzfall. Sie ist selbst noch dabei, sich zu erfinden – und wir sehen nur ihre Vorboten. YASSIN MUSHARBASH