: Eine Kanzlerin in zwei Welten
AUS BERLIN JENS KÖNIG
„Nachher erwarten wir auch noch die Bundeskanzlerin“, sagt Peter Hahne. „Dann wird die Kinderarmut erstmals im deutschen Fernsehen Chefsache sein.“
Hahne steht vor einer riesigen Glasfassade in der Berliner Akademie der Künste. Hinter ihm ist das Brandenburger Tor zu sehen, die Dresdner Bank, die Französische Botschaft, gleich nebenan residiert das Nobelhotel Adlon. „Berlin ist eine Stadt der Gegensätze“, sagt er. „Auf der einen Seite Luxus, auf der anderen Seite Armut. Heute sprechen wir über Kinderarmut. Es ist ein Thema, das sicherlich allen unter die Haut gehen wird.“
Hahne schlägt seine Augenlider nieder. So verharrt er zwei, drei Sekunden lang. Dann klappt er sie wieder nach oben.
Hahne ist der Priester unter den deutschen Fernsehjournalisten. Stellvertretender Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios, Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche, Kolumnist der Bild am Sonntag, Verfasser von gedankenfreier Erweckungs- und Empörungsprosa. Sein, nun ja, Buch „Schluss mit lustig“ steht seit über 50 Wochen auf allen Bestsellerlisten. An diesem Dienstagnachmittag moderiert er ein Forum zur Kinderarmut in Deutschland.
Unicef, der Deutsche Kinderschutzbund und das Bündnis für Kinder diskutieren die Auswirkungen sozialer Benachteiligungen für Kinder. Diese Lobbyorganisationen arbeiten normalerweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Heute jedoch gehen sie aufs Ganze. Sie wollen Alarm schlagen. Nach ihren Schätzungen wachsen 2,5 Millionen Kinder in Deutschland in relativer Armut auf. Um diesen Skandal öffentlich zu machen, müssen sie sich Prominenz an ihre Seite holen: einen prominenten Ort, einen prominenten Moderator, einen prominenten Stargast.
„Noch sitzt Angela Merkel gemeinsam mit Franz Müntefering in der Bundespressekonferenz“, wiederholt Hahne sein wichtigstes Anliegen. „Aber danach kommt sie sofort zu uns. Wir nehmen das Thema sehr ernst. Um 19 Uhr zeigen wir Ausschnitte dieser Veranstaltung sogar in den heute-Nachrichten.“ Peter Hahne passt auf ein Forum über Kinderarmut wie Günter Grass auf ein Konzert von Tokio Hotel.
Bevor die Kanzlerin kommt, diskutiert Hahne das Thema schnell noch mit den Fachleuten: Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes; Marimar del Monte, Leiterin des Kinderhauses „Blauer Elefant“ in Essen; Pastor Bernd Siggelkow, Chef des Berliner Kinderhilfswerkes „Die Arche“; Heide Simonis, Vorsitzende von Unicef Deutschland. Sie schildern in klaren, eindringlichen Worten die Dimension eines gesellschaftlichen Skandals. 2,5 Millionen Kinder in Armut in einem reichen Land wie Deutschland – das bedeute materielle Not, sozialen Ausschluss, Reduzierung von Bildungschancen, Beeinträchtigung der Gesundheit, Raub von Selbstbewusstsein. „Hartz IV hat diese Probleme verschärft“, sagt Heinz Hilgers. „Allein seit 2004 ist die Zahl der Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben müssen, um 100 Prozent gestiegen.“
Ein Blick für Armut?
„Armut hat etwas mit Würde zu tun“, sagt Marimar del Monte. „Wir müssen darauf achten, dass die Entwürdigung der Kinder nicht noch größer wird, indem wir immer wieder nur mit dem Finger auf sie zeigen.“
„Kinderarmut kann jeder in seiner Nachbarschaft beobachten, wenn er den Blick dafür hat“, sagt Bernd Siggelkow. „40 Prozent der Eltern in Berlin melden ihre Kinder von der Ganztagsschule ab, weil sie kein Geld mehr haben, um dort das Essen zu bezahlen. Allein in der vorigen Woche kamen 340 hungrige Kinder zu uns – nur um zu essen.“
„Deutschland ist das Land mit der am schnellsten steigenden Kinderarmut unter den Industrienationen“, sagt Heide Simonis. „Wir müssen in der Politik endlich an dieses Tabu herangehen.“
Die Fachleute fordern von der Regierung einen Aktionsplan mit konkretem Ziel. Die Reduzierung der Kinderarmut müsse die gleiche Priorität haben wie der Kampf gegen Arbeitslosigkeit. Die Kinderpolitik solle sich auf Hilfen für die schwächsten Familien konzentrieren.
Nach einer halben Stunde muss es genug sein mit den Schilderungen und Forderungen. Durch den Plenarsaal der Akademie schiebt sich ein großer, schwarzer, schwerfälliger Tross aus Leibwächtern, Kameramännern und Kanzlerflüsterern. Als er einen Meter vor der Bühne zum Stehen kommt, spuckt er plötzlich Angela Merkel aus. Lächelnd steht die Bundeskanzlerin da. Ihr brauner Anzug leuchtet im grellen Licht der Fernsehscheinwerfer. Phoenix ist jetzt live zugeschaltet. Einige Zuschauer in den vorderen Reihen zücken ihre Digitalkameras.
„Ich begrüße Sie, Frau Bundeskanzlerin“, ruft Peter Hahne. Er legt sofort los, die kostbare Zeit der Regierungschefin will er nicht verschwenden. „Ist das Thema Kinderarmut – das bezeugt doch eigentlich Ihre Anwesenheit hier – endlich in der ersten Reihe der Politik angelangt?“
„Also“, antwortet die Kanzlerin, „zunächst einmal möchte ich denen danken, die sich hier so engagieren. Gegenüber Organisatoren wie Unicef und anderen, die alle ehrenamtlich arbeiten, ist mein Kommen ein Stück Ehrerbietung, wenn ich das so sagen darf.“ Darf sie. Hahne nickt unterwürfig. „Es ist gut, dass dieses wichtige Thema im Mittelpunkt steht“, fährt sie fort. „Ich will dazu beitragen, an der einen oder anderen Stelle zu helfen.“
In den folgenden dreißig Minuten wird nicht ganz klar, wo die Kanzlerin helfen will. Sie redet über Kinderarmut wie über ein interessantes Phänomen, durchaus interessiert, nicht frei von Kenntnis, für eine Regierungschefin hinreichend allgemein. Sie spricht von gesellschaftlichen Gruppen, die immer weiter auseinanderdriften. Von Tendenzen in unserem Land, bei Problemen in Familien wegzugucken. Von generationsübergreifender Armutsvererbung, die es Kindern unmöglich mache, sich aus ihrer bedrückenden Situation zu befreien. Sie packt das in Politikersätze von ewiger Gültigkeit. „Wir müssen schauen, was wir für die Alleinerziehenden tun können“, sagt sie an einer Stelle. An einer anderen: „Die Frage, wie sich Kinder in unserer Gesellschaft entwickeln, ist eine Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft.“ Die Idee, die Rechte von Kindern im Grundgesetz festzuhalten, bezeichnet sie als „interessanten Gedanken“.
Ein Auftritt ohne Folgen
Merkel sitzt entspannt auf ihrem Stuhl. Sie hat nichts zu befürchten. Niemand weit und breit, der ihr Paroli bietet. Nur Hahne. Die Armutsexperten wurden gebeten, sich in die Zuschauerreihen zurückzuziehen. Auf die Frage des Moderators, ob sie einige Härten bei Hartz IV korrigieren wolle, antwortet die Kanzlerin, dass Hartz IV die Lage der Kinder nicht verändert habe, durch die Reform sei deren Situation nur transparenter geworden. „Deutschland ist ein Land, das ein Existenzminimum auf einem Niveau festgeschrieben hat, das die Befriedigung der Grundbedürfnisse gewährleistet.“
Der Präsident des Kinderschutzbundes rutscht auf seinem Platz unruhig hin und her. Vorhin hatte er noch gewettert, dass es ein großer Fehler von Hartz IV gewesen sei, die einmaligen Geldleistungen für bedürftige Familien, etwa für Kinderschuhe und Wintermäntel, zugunsten einer Pauschalsumme von 15 Euro abgeschafft zu haben. Das müsse rückgängig gemacht werden, hatte er gerufen. Jetzt darf er seiner Kanzlerin dabei zuhören, wie sie alle Expertisen über den Zusammenhang von Hartz IV und wachsender Kinderarmut einfach beiseitewischt.
Merkel redet lieber über das Vorhaben ihrer Familienministerin, alle familienpolitischen Leistungen auf ihre Zielgenauigkeit hin zu überprüfen. „Dann hätten wir vielleicht, ohne zusätzliches Geld in die Hand zu nehmen, die Möglichkeit, besser zu helfen.“
Von großer Politik
Unmittelbar vor diesem Forum über Kinderarmut war die Kanzlerin an diesem Dienstag ein paar hundert Meter weiter in der Bundespressekonferenz aufgetreten. Sie hatte über die Planungen ihres Kabinetts bis zum Jahresende berichtet: Unternehmensteuerreform, Gesundheitsreform, Veränderungen bei Hartz IV. Die Worte „Kinder“ und „Armut“ fielen nicht ein einziges Mal. Der Saal war proppevoll, Hunderte von Hauptstadtjournalisten stellten kritische Fragen zum Regierungskurs. Herausgekommen ist dabei nichts, jedenfalls nichts, was man als Zeitungsleser nicht schon vorher wusste. Das ist das, was man gemeinhin „große Politik“ nennt.
Dagegen ist das hier in der schönen Akademie der Künste Erholung. Ein öffentlicher Auftritt ohne Folgen. Eine herrschaftliche Geste. Auf jeden Fall keine Politik. Die Kanzlerin sagt keinen einzigen Satz, der erkennen lässt, dass sie zwischen ihrem Regierungshandeln und den dramatischen Folgen wachsender Kinderarmut irgendeinen Zusammenhang herstellt.
Eine Steuerreform, die die Unternehmen um Milliarden entlastet und die Einnahmen des Staates beschneidet? Eine Reform des Gesundheitswesens, die die Kosten für die gesundheitliche Grundversorgung immer mehr dem Einzelnen aufbürdet? Verschärfungen von Hartz IV, die bestenfalls die repressive Kontrolle der Arbeitslosen und ihrer Familien verbessert, nicht jedoch deren Aussicht auf einen Job? Kein Thema in der Akademie. Keine kritischen Fragen. Keine Hauptstadtjournalisten. Die Zeitungen haben ihre Volontäre geschickt.
Im Koalitionsvertrag steht übrigens auf Seite 101: „Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem Jahr 2006 weiterentwickeln.“ Passiert ist bis heute – nichts.
Peter Hahne ist inzwischen bei Nelson Mandela angekommen. „Die Überwindung der Armut ist kein Akt der Barmherzigkeit“, zitiert er, „sondern ein Akt der Gerechtigkeit.“ Die Kanzlerin nickt. „Ja, das ist unbestritten so.“ Dann formuliert sie noch ein paar luftige Sätze über die Bedeutung von Beschäftigung und Bildung. „Eine Zukunftsaufgabe, die alle angeht“, sagt Hahne ernst. „Ja“, antwortet Merkel. „Ausbildung ist der Schlüsselbegriff.“
„Ein besseres Schlusswort kann man sich gar nicht wünschen“, ruft Hahne. Er ist wieder fröhlich. Er grinst.
Die Kanzlerin springt auf. Sie ist zufrieden. Aber irgendwann muss Schluss sein. Sie muss schließlich wieder an die Arbeit. Ihre Chefsachen regieren.