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Archiv-Artikel

Lesen bei minus 12 Ampere

Die Zentrale Intelligenz-Agentur hatte am Mittwoch zum „Milgram-Experiment“ im nbi eingeladen, wo Autoren ihre Texte vorlesen mussten und vom Publikum für besonders schlechte Beiträge mit Stromschlägen bestraft wurden

Die Verwirrung nach der Bachmannpreisverleihung an Kathrin Passig war groß. Einige Kritiker meinten rausgefunden zu haben, dass Passig eine Art Kollektivperson sei. Die ZIA, eine als „Zentrale Intelligenz-Agentur“ firmierende fiese Literatengang aus dem „Terrorbezirk“ Neukölln, die durch Ironie Verwirrung stifte, habe quasi qua Klagenfurtbetrug eine der wichtigsten Auszeichnungen der Welt eingesackt. Das ist ewig her.

Jetzt kündigten die ZIA und ihr angeschlossene Organe eine neue, etwas radikalere Art der so beliebten Publikumsabstimmung bei Lesungen an: „Onkel Milgrams Open Mike“. Endlich ein neuer „Aufreger“ für „die Medien“. Mit für einige schwer erkennbarer Ironie wollte man im nbi ein Experiment aufleben lassen, das 1961 stattfand und seitdem für Wirbel in diskutierenden Schulklassen sorgt. Es sollte Stromschläge für nervige Autoren geben, die durch Buhs, Pfiffe oder Werfen von Plastikbechern nicht von den Lesebühnen verschwinden wollen. Überall Open Maiks, die ihren Pornokram vortragen, und Poetry Slammer, „die an sich glauben“.

„Das Gewebe bleibt unberührt“, hieß es dann endlich von Passig. Ihr Kollektiv hatte sich weiße Kittel übergezogen. Das Publikum sollte die Handys ausdrücklich anlassen. Auf einer Videowand wurden der aktuelle Punktstand in Milliampere angezeigt. Durch Wählen einer Nummer konnte man den Autoren Strom durch zwei am Arm befestigte Elektroden verpassen. „Menschenverachtend“, sagte dazu eine Frau später in ein Radiomikro, „echt unmöglich, an so was teilzunehmen“. Die Autoren hatten natürlich ihren Spaß. Erstes Versuchskaninchen war Daniel Erk, nachdem Mitinitiator Holm Friebe gekniffen hatte. Dafür kündigten die ZIA-Hochspannungsingenieure an, notfalls könne man auch aus den „Vagina-Monologen“ lesen lassen. Was später die Praktikantin eines Radiosenders gerne tat.

Passig, inzwischen „Medienprofi“, sprach in ihrem Arztkittel in die RTL-Kamera vor der Bühne: „Stromschläge bieten viele Vorteile für den Autor. Keiner hört aus Höflichkeit zu.“ Man konnte geradezu spüren, wie einige mit Schreibblöcken wieder nicht recht kapierten, was und wo denn hier die Ironie sei. Und ob Ironie nicht Unernst bedeutet und deshalb so gar nicht mehr in unsere Zeit passt …

„Killing me softly with his words“, hauchte Erk ins Mikro, langsam wurden die Amperezahlen größer. „Du hast in mir geblättert, wie in einem Buch“. Minus 4. Bei minus 20 hatte Passig den Autoren richtig schöne Schmerzen versprochen. In etwa so, als berühre man mit der Zunge die beiden Pole einer Batterie. Kandidat Nummer eins schied bei minus 12 aus, hatte aber seinen ganzen Kitschtext durchgebracht. „Ihr seid zu lasch“, feuerte er die Handy-Folterer heraus.

Dann ein Proband „aus Pforzheim“ im Hawaiihemd. Mit einem Hundegedicht über umkippende zweibeinige Viecher erreichte er schwache minus 8. Dann wurde ein Claudius verkabelt, der versuchte es mit Kalauern über Pflichtlektüren: „Lem: Solarium, Camus: Das Fest, Grass: Der Blechtrottel“.

Letztlich war der Literaturkritiker Marius Meller der Held des Abends. Er durfte sich noch Stunden nach „dem Event“ von süßen Praktikantinnen ausfragen lassen: „Was haben Sie gespürt? War das nicht sehr schmerzhaft – lesen und Stromschläge kriegen?“ Er hatte minus 18,4 erreicht, beim Anlegen der Elektroden hatte ihn Passig als „nicht ganz so haarig“ beschrieben, was die Körper-Leitfähigkeit noch erhöhte. Aber er hielt durch. Gewann die Vagina-Monologe als Preis. Zeigte jeder Parktikantin und „der taz“ seine Brandmale am Arm.

Tatsächlich hatte Meller rote Flecken, die er in der dunklen Loungesofaecke mit seinem Feuerzeug beleuchtete. „Was haben Sie als Autor aus diesem Experiment gelernt?“ Dass das Publikum miese Nazis seien. Außerdem fühle er sich als Märtyrer unter den Lesenden. Die Medienmädchen schrieben alles brav in ihre Notizblöcke. Lachten aber nicht. Fragten nicht grinsend: Sehen sie sich als Opfer? Sondern fanden das Experiment „eigentlich nicht okay“. Irgendwie erinnerten sie mich dabei für Sekunden an die Schauspielerin der Traudl Junge im Hitler-Movie mit Bruno Ganz. Ein herrlicher Abend der Verwirrungsstiftung, der in den Medien hoffentlich schön unironisch gewürdigt oder gar „noch Wochen durchdiskutiert“ wird.

ANDREAS BECKER