Kritik an der Kritik

Die Kritische Psychologie erwuchs aus frühen sowjetischen Versuchen, der bürgerlichen Psychologie ein sozialistisches Pendant entgegenzustellen. In den frühen 20er-Jahren waren sich Psychologen wie Lew Semjonowitsch Wygotski und die Psychoanalytiker um Sigmund Freud in einer Hinsicht einig: Abzulehnen sei eine Psychologie beziehungsweise Psychiatrie, die im seelisch leidenden Menschen nur ein medikamentenbedürftiges Wesen sehen wollte – der Mensch sei keine Maschine, die mit chemischer Hilfe therapiert werden könne.In den 70er-Jahren erlebte die Kritische Psychologie gerade in realsozialistisch geprägten Studentenkreisen eine Renaissance, verkörpert in der Person Klaus Holzkamps. Seine theoretischen Ideen mündeten jedoch nie in eine therapeutische Praxis. Gerade viele, die sich vom stalinistischen Sozialismus (wie im Ostblock) die beste aller Welten versprachen, suchten nach 1989 massenhaft Psychologen, Gesprächstherapeuten oder Psychoanalytiker auf. Die eine Frage stand stets im Vordergrund: Wie konnte es dazu kommen, dass man sich eine grundstürzend äußere Welt ersehnte – und vor den eigenen Phantasmen und Obsessionen flüchtete? Die banale Formel aller Kritischen Psychologie, sagen ihre Kritiker, lautete nämlich stets: Du musst nicht leiden, schließe dich mit anderen zusammen und verändere die Welt – und es geht dir besser! Das erwies sich auch in der Praxis als untauglich. Manche sehen in der Kritischen Psychologie eine Art Religionsersatz, um die Feinstverästelungen der menschlichen Seele nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. JAF