: Streik für Spannung
RADSPORT Vincenzo Nibali erwehrt sich bei der Vuelta der einheimischen Kletterer. In die Schlagzeilen schaffen es indes nur eine Alkoholeskapade und ein Arbeitsverweigerer
AUS MADRID TOM MUSTROPH
Als sich Vincenzo Nibali im grünen Liquigas-Bus versteckte, um sich in seiner Konzentration nicht stören zu lassen, Ezequiel Mosquera vor einer einsamen Kamera des spanischen Fernsehens in Tagträumen schwelgte, wie er ebendiesen Nibali noch vom ersten Gesamtrang der Vuelta stoßen könnte, und Philippe Gilbert kurz vor dem Startschuss einen letzten Blick auf das Profil der Etappe warf, die er wenige Stunden später gewinnen sollte, vertiefte sich Fabian Cancellara in aktuelle Flug- und mittelfristige Karrierepläne. Der Schweizer stieg auf den ersten Kilometern der 19. Etappe vom Rad, bewegte sich motorisiert schnurstracks in Richtung Flughafen, erzählte dem dänischen Fernsehen, das ihn zufällig traf, etwas von „persönlicher Vorbereitung auf die WM“ und war selbst für seinen Arbeitgeber eine ganze Weile nicht erreichbar. Bjarne Riis löste daraufhin den noch ein Jahr gültigen Vertrag mit seinem Lieblingsprofi. Der ist jetzt frei, seinen Luxemburger Teamgefährten Fränk und Andy Schleck in eine gemeinsame professionelle Zukunft zu folgen.
Die Nachrichten von Cancellaras wohlkalkulierter Arbeitsverweigerung und Riis’ Disziplinarstrafe für Andy Schleck wegen dessen Alkoholeskapade waren die lautesten Signale, die von der dreiwöchigen Spanienrundfahrt nach Deutschland drangen. Das ist schade. Denn es gab wesentlich mehr zu vermelden. Einen extrem fitten WM-Favoriten Philippe Gilbert zum Beispiel. Der Belgier trumpfte bei der dritten Etappe auf, schmückte sich eine Arbeitswoche lang mit dem Roten Trikot des Gesamtführenden und schlug drei Tage vor Ende der Rundfahrt erneut zu. „Er ist der Mann, auf den sich bei der WM alle konzentrieren werden“, prognostizierte Jan Schaffrath. Der Berliner betreute bei der Vuelta Team HTC Columbia und wird in Melbourne bei der Rad-WM gleiches für die BDR-Auswahl tun. In seinem Hauptberuf beim US-Team konnte sich Schaffrath über die bemerkenswerte Leistung des Slowaken Peter Velits (Überraschungssieger beim Zeitfahren und Dritter der Gesamtwertung) sowie die Tagessiege und das grüne Sprintertrikot von Mark Cavendish freuen.
Geprägt wurde die Vuelta allerdings von dem faszinierenden Hase-und-Igel-Kampf des Italieners Vincenzo Nibali gegen die spanische Klettererfraktion. Schlau teilte Igel Nibali seine Kräfte ein. Er ließ abreißen, wenn die Rampen zu steil wurden und das Tempo zu hoch wurde. Er biss sich wieder heran, wenn der Neigungswinkel sich senkte und den munter davonhoppelnden einheimischen Berghasen die Puste ausging. Der Aufstieg zur Bola del Mundo am Samstag war ein Lehrstück. Ezequiel Mosquera, der aggressivste der Spanier, zog bei einem 20-Prozent-Anstieg davon. Er hatte schon knapp die Hälfte seines Rückstands in der Gesamtwertung wettgemacht, da kurbelte sich der Italiener wieder in dessen Nähe. Nur mit allerletzter Kraft konnte Mosquera noch den Tagessieg retten. Als „König der Vuelta“, der mit der „Ruhe des Starken“ triumphiert habe, feierte die Gazzetta dello Sport den 25-Jährigen. Als den Protagonisten eines Kampfes, „in dem jeder lieber gestorben wäre, als mit dem Pedaltreten aufzuhören“, würdigte El Pais Mosquera.
Auch aus deutscher Sicht gab es Erfreuliches: Ein außergewöhnlich entschlossenes Milram-Team platzierte fast jeden Tag einen Fahrer in einer Ausreißergruppe. „Wir waren hier bei der Vuelta anders eingestellt als noch bei der Tour. Die Devise war: Wir hören nicht auf zu ackern, bis nicht ein blaues Trikot in der Gruppe vorn dabei ist“, erklärte Robert Förster. Teamkollege Dominik Roels war sogar mehrere Tage hintereinander vorn mit dabei. Sein Auftritt war so bemerkenswert, dass sich ungläubiges Staunen im Pressesaal ausbreitete: Was, der Mann hat noch keinen Vertrag für die neue Saison? Nein, hat er nicht, wie so viele momentan. Roels kann immerhin davon ausgehen, dass die Fachwelt seine Leistungen zur Kenntnis nimmt.
Über diese Teilöffentlichkeit hinaus fand die Vuelta allerdings wenig Beachtung. Die internationale Presse war nur rudimentär anwesend. Auch die spanischen Medien bildeten aufgrund der Abwesenheit der Stars Alberto Contador (Urlaub) und Alejandro Valverde (Dopingsperre) ein armseliges Häuflein. Es war wie im echten Leben: Die schönsten Geschichten ereignen sich dann, wenn sie noch nicht medial umzingelt sind.
Damit die Tour de France endlich wieder einmal spannend wird, sollte man sie am besten bestreiken.