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Archiv-Artikel

Mr. Doc entschuldigt sich

Land Of The Free (1): Angst vor der Gesundheitsreform? Sie waren wohl noch nie bei einem US-Frauenarzt

Beim Annual Check-up, also der jährlichen Vorsorgeuntersuchung zur Krebsfrüherkennung, muss frau in den USA zuerst einmal bezahlen. Wer nicht vorab per Kreditkarte den $20-Krankenkassen-Eigenbetrag überweist, kann direkt wieder gehen.

Urinproben, die in Deutschland zur Routine gehören, interessieren hier nicht. Stattdessen bringt eine Krankenschwester die Patientin direkt in ein enges, fensterloses Behandlungszimmer, wo außer einem Spreizstuhl kein Platz für weitere medizinische Geräte ist. Ist auch nicht nötig, denn die daheim obligatorische Ultraschalluntersuchung entfällt ebenfalls.

Auf die Frage, ob man sich zunächst oben oder unten „freimachen“ soll, lacht die Arzthelferin schallend. „Baby, this is America“, sagt sie und holt ein gefaltetes Papierpaket aus dem Hängeschrank, das sich als ein überdimensionalisierter weißer Wickelumhang entpuppt. Dann schließt sie die Tür von außen mit der Anweisung, erst wieder zu öffnen, wenn man untersuchungsbereit sei.

Der Supersize-Papierkittel, dreimal um den nackten Leib gewickelt, raschelt und kitzelt bei jeder Bewegung, dafür ist bestimmt kein Stück unzüchtiger Haut mehr zu sehen. Als der Arzt endlich den Behandlungsraum betritt, löst sich der Umhang unter den Achseln bereits in durchgeweichte Zellulosepartikel auf, denn eine Klimaanlage gibt es in der Praxis nicht.

Mr. Doc, ein graumelierter Herr in den 50ern, stellt sich nicht vor, aber er entschuldigt sich. Die Untersuchung werde leider „very uncomfortable“, sehr unangenehm werden, sagt er und verschwindet in den ungeahnten Tiefen des Wickelumhangs. Statt einfach zu erklären, dass er die Standarduntersuchung von Vagina und Gebärmutter durchführt, schallt es dumpf zwischen den Beinen hervor, dass er weiterhin „very sorry“ sei, sich aber beeile und verspreche, dass die Unannehmlichkeiten schnell vorbei seien.

Dass die Amis in Sachen Sex total verklemmt sind, ist bekannt. Aber dass sich selbst ein Frauenarzt mit 30-jähriger Berufserfahrung bei der Genitaluntersuchung so peinlich aufführt wie ein pubertierender Halbstarker, das verwundert dann doch.

Wer trotz dieser puritanischen Untersuchungs-Erfahrung auch jetzt noch nordeuropäisch-freizügig-unverkrampft im Spreizstuhl liegt, verliert spätestens dann die Fassung, wenn der Arzt vor lauter Verhüllung die Brüste nicht mehr finden kann und sich hilflos durchs Papierkostüm wühlt. Blickkontakt vermeidet er um jeden Preis und rot wird er noch dazu, als er die Brüste endlich doch zu fassen bekommt.

Um die Patientin abzulenken (oder vielleicht eher sich selbst?), erzählt er zum Abschluss schnell noch von Mark Twains lustigem Essay über die schreckliche deutsche Sprache, die sich für Amerikaner anhöre wie Gänsefürze, und damit ist der Annual Check-up so abrupt vorbei, wie er begonnen hat. Mr. Doc verlässt fluchtartig den Behandlungsraum und frau schwört sich, die nächste Kontrolluntersuchung garantiert erst beim kommenden Heimaturlaub in Deutschland durchführen zu lassen.KIRSTEN GRIESHABER

Unter dem Titel „Land Of The Free“ berichtet Kirsten Grieshaber unregelmäßig über den Alltag in New York City