: Am Ende der Offenbarungen
Steht immer noch auf zwei Beinen und will auch weiterhin nicht den Mund halten: Günter Grass bei seiner Buchpremiere im Berliner Ensemble
Sie haben sich Mühe mit ihrem Transparent gegeben, die fünf Antifaschisten, die an diesem Abend tapfer vor dem Eingang des Berliner Ensembles stehen: „Grass – du bist Deutschland“ heißt es auf dem Transparent, die kleinen s sind in Runenschrift gesetzt, daneben ist eine Zwiebel mit Stahlhelm gemalt. Auf dass sich, so lässt sich das Begehren des wackeren Antifa-Häufleins im Vorfeld der Grass-Buchpremiere interpretieren, die Grass-Debatte der letzten Wochen nicht in multimedialem Wohlgefallen auflöse. Oder allein auf den Kitzel einer neuen Enthüllung oder Sensation reduziere. Diesen Eindruck hatte man tatsächlich am Nachmittag vor der Buchpremiere bekommen können, als der Steidl Verlag, in dem Grass’ Bücher erscheinen, gleichfalls im BE sein Herbstprogramm vorstellte.
Eine seltsame Veranstaltung war das. Denn das Interesse der weit über hundert Medienleute hatte nicht den neuen Büchern etwa von Thomas Weiss, Thorsten Palzhoff oder Oskar Negt gegolten und auch nicht dem anschließend üppig ausgeschenkten Dom Perignon oder den massenhaft ausliegenden Steidl-Dom-Perignon-Geschenktüten, sondern allein Günter Grass. Dieser aber erklärte im Kurzgespräch mit seinem dänischen Übersetzer nur, dass er den Zweifel beim Verfassen einer Autobiografie habe mitschreiben wollen, dass die Motivation für „Beim Häuten der Zwiebel“ das Nachholen von vielen „ungestellten Fragen“ aus seinen Jugendjahren gewesen sei.
Nicht viel anders geht es am Abend im BE zu, als Grass sich auf dem blauen Sofa den Fragen des ZDF-„Aspekte“-Moderators Wolfgang Herles stellt. Grass, der seinen notorisch ockerfarbenen Cord-Anzug trägt, wirkt selbstbewusst, trotzig gar: „Ich stehe noch auf zwei Beinen und werde weiterhin meinen Mund nicht halten“, und die vorsichtigen, allein der Form genügenden Versuche von Herles, das „Rätsel des langen Schweigens“ aufzuspüren, verlaufen im Leeren.
Auffällig ist, dass Grass austeilt und das Feuilleton beschimpft, das „unter seinem Niveau argumentiert“ hätte, worauf es Applaus aus dem Publikum gibt, und sich – wieder einmal – auf die Kunst beruft. Er habe eben erst eine Form finden müssen, um die Sache mit der Waffen-SS erzählen zu können. Auffällig ist auch, dass Grass’ Spekulationen, er hätte sein „Geschäftsmodell nicht zerstören wollen“, wie Herles einen Kollegen zitiert, empört ignoriert („das brauche ich nicht zu beantworten, ich freue mich auf das Lesen“), aber des Rätsels Lösung zurückgibt: „Das ist Ihre Aufgabe, darüber nachzudenken.“
Man spürt, dass hier zwei Welten nicht zusammenkommen, und man ahnt auch, dass Grass den Grund seines Schweigens im Leben nicht mehr benennen wird. Warum sollte er auch? Ansonsten vermittelt dieser Abend, dass Grass sich gewissermaßen auserinnert hat; dass sich in noch so vielen Gesprächen nicht mehr klären lässt, als schon in seinem Buch steht. Grass erzählt seine Geschichten teilweise mit denselben Worten. Er liest das Stück über den Zeugen Jehovas, der sich weigerte, eine Waffe in die Hand zu nehmen, dann das über sein ängstliches „Hänschen klein“-Singen im Wald (eine so schöne wie geschönte Geschichte), und er zeigt sich schlagfertig, als Herles noch mal zaghaft investigativ fragt, ob man die „Danziger Trilogie“ neu lesen müsse: „Es ist immer gut, Bücher wieder zu lesen.“
Am Ende blieben alle interessanten Fragen weiter offen. Das Publikum, so schien es, hatte einen guten Abend und Spaß an Grass’ Lesestücken über seinen Kochkurs im Lager oder seine drei Olivettis und spendete viel Applaus. Und draußen war dann auch von den wackeren Antifaschisten nichts mehr zu sehen.
GERRIT BARTELS