Die Wut auf internationale Kunstfuzzis

THEATER UNGARN Ob in Budapest, Rom oder Berlin: Demokratiedefizite, die von der HOPPart Company a cappella besungen werden, finden sich überall. Anderen Stücken des Ungarnfestivals im HAU fehlt die Öffnung des Blicks

„Fuck Berlin / Fuck Art Snobs / Fuck the Bull- shit Upper Class“ steht auf dem Programm

VON TOM MUSTROPH

Avantgardetheater aus Ungarn hat sich eingerichtet im Verfall wie eine Marthaler-Bühne; aber es gibt mehr Sex als bei dem Schweizer Regisseur. Auf diese Kurzformel ließe sich das erste Wochenende des umfangreichen Festivals zeitgenössischer ungarischer Theaterkunst „Leaving is not an option?“ im HAU bringen.

Kacheln purzeln von der Wand einer heruntergekommenen Klinik für Demenzkranke, in der der Film- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó seine Verfallsoperette „Dementia, or the Day of my Great Happiness“ angesiedelt hat. Die Uhr geht schon längst nicht mehr, und die Grünpflanzen scheinen neben Wassermangel auch solchen an Zuwendung zu haben. Die einzigen Dinge, die noch voll funktionsfähig erscheinen, sind die sanitären und die kühlenden Einrichtungen. Aus dem Kühlschrank holt die meist in sich versunkene Patientin Ottilia (gespielt von Orsolya Tóth, 2009 ein Berlinale „Shooting Star“) des Nachts die Blutkonserven, mit denen sie ihren Energiehaushalt auf Minimalniveau sichern kann. In der Duschzelle im Obergeschoss des aufwendig gestalteten Bühnenbilds macht sich Krankenschwester Dóra (Káta Weber) im Multitaskingbetrieb an einem einkotenden Patienten und dem auf einen Blowjob aus seienden Investor des Klinikgeländes zu schaffen.

Mundruczó liebt drastische Bilder. Das wird schnell deutlich. Leider überdeutlich. Denn dass Investorenkapitalismus böse ist, hat sich mittlerweile in Ost wie West herumgesprochen.

Immerhin gelingen ihm starke atmosphärische Sequenzen. Etwa dann, wenn der auf die Seite des Investors übergelaufene Klinikarzt Szatmári (Roland Rába) die Patienten zur Auflösung des Vertrags drängt und eine gewellte Projektionsfläche die in Großaufnahme zu sehenden Gesichter der armen Gestalten grotesk verzerrt und so eindrucksvoll von ihrer Ohnmacht und Verzweiflung erzählt. In solchen Momenten entkommt „Dementia“ glücklich dem Wahrnehmungsrahmen des Festivals: Ach wie schlimm sind die Zustände in Ungarn!

Auch zum Festivalthema „Leaving is not an option?“ liefert Mundruczós Inszenierung eine komplexe Antwort. Der Klinikboss lehnt erst den „goldenen Handschlag“ – einen Job in der Schweiz – ab, handelt dann doch luxuriöse Bedingungen aus, um sich schließlich für ein Outlaw-Leben an der Seite seiner einstigen Patienten in der nun besetzten Anstalt zu entscheiden.

Von Martha-lerhafter Skurrilität ist auch die Wohnung geprägt, in die „The Acts of the Pitbull“ einlädt. Ein Unterschichtspärchen wird hier von einem pennerhaften Propheten heimgesucht, der alle seine Gelüste – vom Moralisieren übers Saufen bis hin zum Sex – hemmungslos ausagiert. So ganz ist nicht klar, ob der Guru-Darsteller Zsolt Nagy mit seiner durchaus beeindruckenden Performance eine eigene Sekte aufmachen, den Spiritualitätsverlust der Gesellschaft anklagen oder sich darüber lustig machen möchte. Ambivalenz ist in diesem Fall keine Stärke.

Einen gänzlich anderen Weg geht Czaba Polgárs HOPPart Company. Sie hat Shakespeares spätes Römer-Drama „Coriolanus“ radikal entkernt und in eine A-capella-Oper über Demokratiedefizite verwandelt. Diese Analyse trifft inzwischen für die meisten Gesellschaften zu, ob in Budapest, in Rom oder Berlin. HOPPart tragen den Volksbetrug immerhin schön melodisch vor und nutzen für ihre Inszenierung den elegant geschwungenen Zuschauerraum des Hebbeltheaters als Kulisse.

Den wohl gelungensten Sprung ins Hier und Jetzt liefert das Künstlerduo Little Warsaw ab. „Fuck Berlin / Fuck Art Snobs / Fuck the Bullshit Upper Class“ steht auf dem Programmzettel des Workshops der unter anderem schon von der Biennale Venedig eingeladenen Künstler. Das Originalpapier hinterließ jemand an ihrem Tisch in einer Budapester Kneipe, in der sie mit Festivalkuratorin Aenne Quinones Pläne schmiedeten. Die Wut auf internationale Kunstfuzzis, von denen man nichts als Gentrifizierung erwartet, scheint vielerorts ausgeprägt. „Ja, ich habe gehört, dass dies auch hier in Berlin ein Thema ist. Wir werden bei unserem Workshop damit arbeiten“, verspricht András Gálik von Little Warsaw.

Das Festival beginnt seine zweite Phase am Donnerstag mit der Auswanderer-Konzertperformance „Hungari“ der HOPPart Company. Altmeister Béla Pintér dringt von Freitag bis Sonntag mit „Our Secrets“ in die trüben Wasser der Geheimdienstarbeit gegen Oppositionelle in den 80er Jahren ein. Und die Choreografin Adrienn Hód belegt in „Dawn“, dass zeitgenössischer Tanz in Budapest trotz aller politischer Spannungen und Weggeh- und Bleibegedanken einen Platz finden kann.

Bis 16. März im Hebbel am Ufer