: Leben lernen mit der Schrift
Wenn Erwachsene lesen und schreiben lernen, wagen sie einen Neubeginn. Der Verein Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe bietet nicht nur Unterricht, sondern auch psychologische Betreuung
von Kathrin Schrader
Die Ausbildung zur Verkäuferin hat die 23-jährige Sylvia* bald wieder abgebrochen. „Die Angst, in der Schule entdeckt zu werden, war unerträglich“, sagt sie. „Schule ist die Hölle.“
Eines Tages sah sie einen Fernsehspot. Sie merkte sich die Nummer der Hotline und rief dort an. Man vermittelte sie an den Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe, AOB e.V. in Kreuzberg. Der Name der Schule ist bewusst vieldeutig. „Anonymität ist für Analphabeten sehr wichtig“, sagt Ute Jaehn-Niesert, die Geschäftsführerin des kleinen Vereins, dessen Räume sich im hintersten Gebäude der Mehring-Höfe verstecken. Zwei Pädagoginnen, eine Psychologin und einige ehrenamtliche Lehrerinnen betreuen 14 Lerngruppen, eingeteilt in Anfänger-, Mittelstufen- und Fortgeschrittenenkurse. Die Zahl der Schüler hat sich in den 29 Jahren seit Bestehen des Vereins nicht verringert.
Erwachsene, die zehn Jahre und länger mit einem Geheimnis gelebt und sich mit allerlei Tricks durch den Alltag gemogelt haben – „Ich habe meine Brille vergessen. Könnten Sie mir das mal vorlesen?“ – „So ein Pech, gestern habe ich mir den Arm verstaucht und heute kann ich dieses Formular nicht ausfüllen. Würden Sie …“ – müssen lernen, sich neu zu orientieren.
Nicht länger den öffentlichen Raum nach Farben und Formen entziffern. Erkennen, dass die Botschaften auf den Handzetteln und Plakaten, die Zeitungen und Briefe an sie adressiert sind, dass sie mit ihrem Leben ebenso viel zu tun haben wie mit dem der Nachbarn, dass sie mitten in diese Gesellschaft gehören. Verstehen, dass Lesen unabhängig und verantwortlich macht.
Silvias Buchstaben und Sätze an der Tafel sehen nicht gemalt aus wie bei einer Erstklässlerin. Ihre Schrift ist erwachsen. Ihre Hände haben schon gearbeitet. Sylvia hat im Eisladen gejobbt, beim Friseur und beim Bäcker. Sie hat alle diese Jobs wieder verloren, als es herauskam. Manchmal verlässt sie der Mut. Es ist dann wie damals, als die Mutter mit verheultem Gesicht in der Küche saß, weil wieder mal einer ihrer Kerle gegangen war, in Sylvias Schulheft schaute und sagte: „Du wirst es nie schaffen.“
„Lesen und schreiben lernen ist ein Balanceakt“, sagt die Psychologin Jaehn-Niesert. „Irgendwann begreifen die Schüler, dass sie nicht mehr zurückkönnen. Dann kommt die Angst, es nicht zu schaffen.“ Jaehn-Niesert kam nach ihrem Studium zu Beginn der Achtzigerjahre zum AOB. Damals hatte man in der Bundesrepublik gerade begonnen, sich dem Problem des Analphabetismus zuzuwenden. Die junge Psychologin machte parallel zu ihrer Arbeit beim AOB eine Ausbildung zur Familientherapeutin und erkannte, dass Analphabetismus immer auch die Familie, den Partner betrifft. Seitdem lädt sie zu den Erstgesprächen die Angehörigen ein und alle Menschen, die den Lernprozess gefährden könnten. Nicht selten hat der Partner Angst, verlassen und nicht mehr gebraucht zu werden, wenn der andere Lesen und Schreiben lernt.
Sylvias Mutter will nicht, dass ihre Tochter sich eine eigene Wohnung sucht, unabhängig wird. Wie viele andere Schüler kommt Sylvia heimlich zum AOB. Hier hat sie erstmals einen Anlaufpunkt gefunden, jemanden, mit dem sie reden kann. „Neulich hatte ich in dem Text, den wir am Ende der Stunde schreiben, keinen einzigen Fehler“, sagt sie, doch es klingt nicht stolz. Es klingt, als wäge sie ab: Du schaffst es – du schaffst es nicht – du schaffst es …
Wenn ich die Penner in der U-Bahn sehe“, sagt Sylvia, „dann habe ich Angst. Ich will so nicht werden. Ich möchte eine eigene Wohnung finden und einen Beruf lernen.“
* Name geändert