Interview mit Sprachwissenschaftlerin: "Einfach nur eine neue Sprechweise"
Die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese erforscht den Berliner Straßendialekt. Mit ihrer Arbeit will sie auch Vorurteile gegenüber dem Dialekt abbauen
taz: Frau Wiese, geben Sie der Zerstörung der deutschen Sprache die akademischen Weihen?
Heike Wiese: Eine Zerstörung der deutschen Sprache fände ich definitiv furchtbar. Ich denke allerdings, dass Kiezdeutsch nicht dazu beiträgt. Das ist ein verbreitetes Vorurteil, aber die deutsche Sprache ist sehr lebendig, das zeigt sich auch an der Entwicklung neuer Dialekte. Kiezdeutsch ist einer davon.
Sie werden aber in genau dieser Weise angefeindet.
Teilweise kommen Reaktionen aus der rechtsradikalen Ecke, die muss man einfach nicht ernst nehmen. Das ist, Gott sei Dank, nur ein kleiner Teil. Viele andere aber glauben, dass die deutsche Sprache bedroht sei, wie zum Beispiel durch die Anglizismen. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir sehr viel Aufklärung leisten. Von einem neuen Dialekt kann die Sprache eben nicht bedroht werden. Viele sind auch besorgt, dass Jugendliche kein Standarddeutsch mehr sprechen können, und das ist eine völlig berechtigte Sorge. Das wäre auf Dauer sozial und wirtschaftlich sehr kostspielig, hat aber erst einmal mit Kiezdeutsch nichts zu tun. Dieser Dialekt ist unabhängig davon, ob man zusätzlich auch noch Standardsprache spricht oder nicht.
Es ist eine Jugendsprache, die man aber nur in bestimmten Gegenden spricht.
Auch nur in bestimmten Kontexten. Die Jugendlichen haben gesagt, mit meinen Eltern würde ich nicht so sprechen, mit meinen Lehrern auch nicht, so spreche ich mit meinen Freunden. Der Unterschied von Kiezdeutsch zu anderen Jugendsprachen ist, das es sich in einem multilingualen Umfeld entwickelt. Viele Jugendliche sind mehrsprachig, sie sprechen etwa deutsch und türkisch oder deutsch und arabisch, die haben ganz andere Ressourcen. In solch einem Umfeld kann sich Sprache viel schneller entwickeln
Welchen direkten Einfluss haben andere Sprachen den auf Kiezdeutsch?
Keinen großen. Es gibt bestimmte Begriffe aus dem Türkischen oder Arabischen, etwa "lan" (so was wie "Alter") oder "walla" ("echt"), die im Kiezdeutschen vorkommen. Türkisch aber hat zum Beispiel einen Fragepartikel, die findet man bei Kiezdeutsch überhaupt nicht. Kiezdeutsch entsteht aus dem Einfluss sehr vieler unterschiedlicher Sprachen, der das System dynamisch macht, aber es bleibt trotzdem ein Dialekt des Deutschen. Was sich da entwickelt, entwickelt sich aus dem Deutschen heraus.
"Kiezdeutsch" bedeutet ja, dass es in Einwandererkiezen wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding gesprochen wird. Stimmt das denn noch?
Wir haben Kreuzberg und Hellersdorf miteinander verglichen, um herauszufinden: Ist Kiezdeutsch die Sprache des multiethnischen Kiezes oder einfach die neue deutsche Jugendsprache? Die Hellersdorfer Jugendlichen kennen Kiezdeutsch zum Teil zwar, benutzen es aber selbst nicht. Die Kreuzberger Jugendlichen dagegen waren damit sehr vertraut.
Sie als Sprachwissenschaftlerin könnten sagen: Mich interessiert nur die Sprache, um das soziale und politische Umfeld kümmere ich mich nicht.
Genau das tue ich eben nicht, Nein, mein Ziel ist, den großen Befürchtungen und starken negativen Vorurteilen, die es in der Öffentlichkeit gegen Kiezdeutsch-Sprecher gibt, sprachwissenschaftliche Fakten entgegenzusetzen. Kiezdeutsch wird als gebrochenes Deutsch, als mangelhafte Integration bewertet, als aggressive Sprache, in der man nur drohen kann. Da entwickeln sich ganz starke negative Stereotypen gegenüber einem Teil unserer Bevölkerung, das dürfen wir nicht zulassen. Da ist die Wissenschaft gefragt zu sagen: Das hier sind die Fakten, das sind die Argumente, die wir aus wissenschaftlicher Sicht sehen. Es ist eben kein gebrochenes Deutsch, sondern ein Dialekt, das heißt eine Sprechweise, die ein Teil des Deutschen ist, aber sich vom Standarddeutschen unterscheidet und ein eigenes System bildet. Zum Beispiel mit einigen speziellen grammatischen Merkmalen, einer besonderen Aussprache und auch einigen eigenen Wörtern.Die Vorurteile, die es gegenüber diesem Dialekt gibt, sind übrigens dieselben, die es früher gegenüber anderen Dialekten gab.
Als da wären?
Dass alles, was anders als im Standarddeutschen ist, ein Fehler ist, und eben nicht einfach eine dialektale Besonderheit; dass solche Fehler nur Ungebildete machen, und nicht einfach Sprecher, die im Dialekt zu Hause sind - kurz: "Das ist schlechtes Deutsch, und wer so spricht, ist dumm." Stattdessen ist es einfach nur eine neue Sprechweise, und wer so spricht, zeigt damit nur, dass er sich in diesem Dialekt auskennt - und spricht zusätzlich eben oft auch Standarddeutsch.
Dennoch sagen Sie: Es gibt massive soziale Probleme, es gibt massive schulische Probleme, das ist aber nicht mein Feld, das soll die Politik regeln.
Nein, ich sage: Daran ist nicht Kiezdeutsch schuld. Ich mische mich aber stark ein, wir machen viele Projekte an Schulen. Wir behandeln Kiezdeutsch im Deutschunterricht und lassen die Schüler selber die Grammatik untersuchen. Dadurch bekommen sie wieder ein Interesse an Grammatik. Diese Jugendlichen sind ja aufgewachsen mit einem ganz starken negativen sprachlichen Selbstbild. Die haben schon sehr früh gesagt bekommen: Du kannst nicht richtig Deutsch. Um an die ranzukommen muss man erstmal sagen, was du sprichst, verurteile ich nicht, und darüber kommen wir jetzt zum Standarddeutschen. Wir werden in Schulen eingeladen, wir halten Vorträge zur Lehrerfortbildung. Ich wende wirklich viel Zeit und Kraft genau dafür auf, in den angewandten Bereich zu gehen.
Wieso sollen Schulen Kiezdeutsch unterrichten?
Wir machen natürlich keine Fremdsprachenkurse Kiezdeutsch. Uns geht es darum, dass die Kinder und Jugendlichen das als Ressource begreifen auf dem Weg zum Standarddeutsch. Lehrer sind bereit, das zu akzeptieren und ebenfalls Zeit und Energie zu investieren. Lehrer werden in der öffentlichen Diskussion auch oft unterschätzt. Die haben nicht alle aufgegeben und keine Lust mehr, die engagieren sich für ihre Schüler. Ich kriege viele Anfragen aus ganz Deutschland.
Gibt es Schüler, die wirklich ein Bewerbungsgespräch auf Kiezdeutsch führen würden?
Niemand würde zu einem erwachsenen so was wie ,lan' sagen. Wir haben aber einen gewissen Anteil Jugendlicher, denen wir nicht die Chance gegeben haben, Standarddeutsch zu lernen, obwohl sie hier geboren sind. Ich formuliere das absichtlich so. Kinder wollen die Sprache des Landes lernen, Kinder sind totale Anpasser. Geben Sie ihnen eine halbe Chance und die lernen das. Das muss man aber auch machen, gut finanzierte Bildungseinrichtungen vom Kindesalter an, das darf man nicht den Familien alleine überlassen. Das ist einfach eine Frage der Finanzierung. In Schweden funktioniert das ja.
Warum haben Sie das Projekt angefangen: Um sich an Ihrem Wohnort Kreuzberg richtig unterhalten zu können?
Nein, dafür bin ich zu alt. Ich brauche keine Jugendsprache zu können, das wäre eher merkwürdig. Eigentlich habe ich das Projekt angefangen, um die Germanistik-Studierenden, die fast alle Literaturwissenschaftler sind, für Grammatik zu interessieren. Wenn ich jetzt ein Hauptseminar über Kiezdeutsch mache, sind da mindestens 130 Teilnehmer. Die Lehramtsstudierenden wollen das wissen. Die werden später in der Schule damit konfrontiert sein, egal wo sie unterrichten.
Wie haben sie Kreuzberg erlebt, als Sie herkamen?
Ich bin wegen meiner ehemaligen Stelle an der Humboldt-Universität nach Berlin gekommen und habe mich sofort in die Stadt verliebt. Ich habe ein Jahr gesucht, bis ich endlich nach Kreuzberg durfte. Ich finde einfach Vielfalt spannend. Ich muss auch nicht immer alles verstehen, was Leute sprechen, da wird mir nicht langweilig.
Sie haben zwei Töchter, zwei und fünf Jahre alt. Werden Ihre Kinder in Kreuzberg zur Schule gehen?
Wir bleiben hier. Wir haben uns allerdings noch für keine Schule entschieden, das steht auch erst nächstes Jahr an.
Bringen sie ihren Töchtern eigentlich Kiezdeutsch bei?
Nein, das lernen sie von selbst. Das fängt jetzt in der Kita an. Zum Beispiel ist der Ausruf "Oha!", den wir aus dem Deutschen ja kennen, so ein bisschen veraltet. Der ist im türkischen viel weiter verbreitet, den benutzt meine Tochter wahnsinnig häufig, das hat sie aus der Kita. Der große Bruch kommt aber in der Pubertät.
Was sind Ihre Lieblingsausdrücke in Kiezdeutsch?
Mein Lieblingswort ist "so", aber das reißt außer Sprachwissenschaftlern wirklich niemanden vom Hocker. Aber es zeigt an einem ganz kleinen Wort, wie neue Grammatik entsteht. Interessant sind auch neue Konstruktionen wie dieses "lass ma" und "musst du". Das ist ja beides als festes Wort entstanden, einmal als Aufforderung an die Gruppe inklusive Sprecher und einmal als Aufforderung an die anderen.
Gibt es Ausdrücke, die Sie schlimm oder hässlich finden?
Nein. Ich mag Sprache einfach.
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