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Archiv-Artikel

Konter mit Flaubert

KRÄNKELN Literatur als intensive und radikale Erfahrung: „Medizinische Autobiographie“, der irritierende Roman des argentinischen Schriftstellers, Exverlegers und Provokateurs Damián Tabarovsky

Obwohl das vielleicht gar nicht Damián Tabarovskys Absicht war, ist ihm mit seinem Roman „Medizinische Autobiographie“ auch eine angenehm beiläufige Beschreibung des aktuellen Alltags von Buenos Aires gelungen. Eigentlich erzählt diese „Autobiographie“ in dritter Person von Dami, einem Soziologen, überzeugtem Turnschuhträger, Ende dreißig. Wer er ist, erfährt man vor allem durch das, was er auf keinen Fall sein will: Anzugtyp, verwöhntes Muttersöhnchen, Boutiquenbesitzer in Palermo Viejo oder zum Dichter mutierter Undergroundrockstar. Dami arbeitet in unmittelbarer Nähe des legendären Teatro Colón für eine expandierende Consulting-Firma, spezialisiert auf Kommunikationsmedien.

Er hat Ideen, ist blitzgescheit und bald unentbehrlich. Wer sollte ihn stoppen. Alle anderen sind Idioten. Selbstzweifel kennt er keine. Doch jedes Mal, wenn sein Leben an Fahrt gewinnt, er auf die Überholspur wechselt, bremst sein eigener Körper ihn brutal aus. Bandscheibenvorfall, Zwölffingerdarmgeschwür, eingewachsener Nagel, HHV-5-Virus-Infektion, Ausschlag … Das Banale der alltäglichen Erfolge und Rückschläge in Damis Existenz durchkreuzt Tabarovsky mit Ironie und plötzlich eingestreuten Zitaten, Namen, Spezialwissen und überraschenden Assoziationen.

Der Roman schafft neue Zusammenhänge und vollzieht so den ständigen Wechsel zwischen „high“ und „low“. Nach bestandener Fahrprüfung stellt der Augenarzt mit Hilfe des „Ishihara-Tests“ bei Dami zufällig Dichromasie, eine teilweise Farbblindheit, fest. Nur, wer war Herr Ishihara? Wir erfahren es umgehend. Damis Bandscheibenvorfall ist „das Schlimmste, das ihm je widerfahren ist, sein säkulares Golgatha“. Der Kranke denkt an Jaspers und an Jünger. Letzteren kontert er mit Flaubert.

Mariátegui und Benjamin

Unvermittelt schreitet Tabarovsky zu einem Exkurs über José Carlos Mariátegui (1894–1930), dem Begründer der Sozialistischen Partei Perus und Herausgeber der Avantgardezeitschrift Amauta. „Ungewöhnlich scharfsinnig für seine Zeit“, so Tabarovsky, „beschreibt Mariátegui, wie die Gesellschaft des Spektakels und der Vermarktung von Avantgarde und vorzeitigem Ableben funktionieren“. Und er beklagt, dass, „hätte Walter Benjamin den Artikel geschrieben, längst Aberdutzende von Untersuchungen, hunderte von Doktorarbeiten dazu veröffentlicht worden und tausende von Tagungen und Konferenzen an den bedeutendsten Universitäten der USA, Europas und Lateinamerikas abgehalten worden wären“.

Ähnlich wie in seinen Kolumnen und Essays begeistert sich Damián Tabarovsky, der Exverleger von „Interzona Editora“, auch in seiner Literatur für kontroverse Debatten. „Medizinische Autobiographie“ wird durch die selbstbewussten Setzungen im Wechsel mit der Beschreibung von Damis kränkelnder Existenz zu einer über weite Strecken anregenden Lektüre – auch wenn gegen Ende des Romans das Verfahren der wechselnden Ebenen sehr willkürlich erscheint und an Spannung verliert.

Mag sein, dass diese Art der „schleichenden Demontage“ durchaus beabsichtigt ist von einem Autor, der sagt: „Man muss nicht verleugnen, dass Literatur eine intensive und radikale Erfahrung ist, eine, die irritiert und verstört, jedoch wissend, dass über das Lesen hinaus dies keinen Effekt haben wird.“

EVA-CHRISTINA MEIER

Damián Tabarovsky: „Medizinische Autobiographie“. Deutsch v. H. von Berenberg, Berenberg Verlag, Berlin 2010, 96 S., 19 Euro