: Die Meister des Uneindeutigen
Seit dem 11. 9. 2001 sind die politischen Identitäten fraglich geworden. Die alten intellektuellen Landkarten gelten nicht mehr. Eine Besichtigung
VON ROBERT MISIK
Raul ist ein weltbekannter Philosoph, der an einer renommierten US-Universität unterrichtet. Martin ist ein aufstrebender Wiener Theoretiker, der es immerhin zu einer Professur an einer ostdeutschen Uni gebracht hat. Seit Martin bei Raul sein Postdoc-Studium machte, sind die beiden eigentlich befreundet. In den wesentlichen Fragen waren Raul und Martin immer einer Meinung – „freie Radikale“, die sich stets einig waren, was vom Kapitalismus zu halten ist.
Unlängst hatte ich Rauls Lebensgefährtin zu Gast und sie fragte mich etwas erregt, ob ich gehört hätte, dass Martin jetzt ein „Antideutscher“ sei. Das erfülle sie mit gewisser Sorge, da Martin sich angekündigt habe, Raul in den Ferien zu besuchen. Ich müsse nämlich wissen, dass Raul auf Seiten der Hisbollah stehe.
Leider konnte ich wenig zu ihrer Beruhigung tun, schließlich weiß ich, dass Martin Menschen mit den Meinungen Rauls für Fellow Travellers der „Islamofaschisten“ hält und kann mir ausmalen, dass Raul Menschen mit den Meinungen Martins als Helfershelfer des US-Imperialismus ansieht. So beschränkte ich mich auf die Bemerkung, sie solle darauf achten, dass die beiden bei dem heiklen Wiedersehen wenigstens unbewaffnet seien.
Eine Episode, die eine Prise Absurdes nicht entbehrt, aber doch symptomatisch dafür ist, wie der 11. 9. und seine Folgen die intellektuelle Situation neu ordneten. Oder besser: Er hat eine Art Kraftfeld aufgespannt, das die Szenerie sortiert. 9/11, der WOT, der „War on Terror“, die Einschätzung der US-Politik, die Dynamik des globalen kulturellen Konfliktes – das sind die wesentlichen Fragen, entlang denen sich neue intellektuelle Bündnisse bilden.
Der 11. September taucht alles in einen spezifischen Äther. Die alten Karten sind Makulatur.
Der Neocon
Die neue Kartografie der geistigen Welt hat etwas Verwirrendes, und deshalb ist man beinahe froh, dass es noch Leute gibt wie den Kollegen O., bei dem man weiß, woran man ist. Wir mögen uns, obwohl wir wissen, dass wir in nahezu jeder politischen Frage gegenteiliger Meinung sind. O. ist der neoliberalste Neoliberale, den ich kenne. Er hasst Sozis und Gewerkschaften, ist gegen den Sozialstaat und glaubt wirklich, dass eine radikal freie Marktwirtschaft in einer mirakulösen Operation alle reicher und glücklicher machen würde.
Seit dem 11. 9. ist er selbstverständlich auch gegen die Moslems. Man kann die Sätze, die er beginnt, selbst zu Ende sprechen. Wenn er etwa sagt: „nicht alle Moslems sind Terroristen“, dann weiß ich, dass folgt: „aber so ziemlich alle Terroristen sind Moslems“. Damit will er sagen, dass es eine neue Auseinandersetzung gibt zwischen der Kultur der Freiheit und einer neuen totalitären Bedrohung. Er meint, dass in Europa so ziemlich alle Whimps sind, die glauben, man könne zwischen dem Guten und dem radikal Bösen eine mediatisierende Mittelposition einnehmen. Wobei „alle“ natürlich reichlich übertrieben ist.
Meinungen wie die von O. haben eine eigentümliche Anziehungskraft bekommen. Der tragische Sound, dass man Kriege nun einmal führen muss, wenn sie einem aufgezwungen werden, verleiht dieser Meinung eine Art von Tugend. Die Behauptung, sie stelle sich gegen den Mainstream des gutmenschlichen Justemilieu, verleiht ihr den Anstrich des Heroischen, ihre intellektuelle Eiseskälte einen Hauch von Schönheit.
Leute wie O. mussten mit dem 11. 9. ihre Meinungen nicht von Grund auf ändern, höchstens adaptieren. Aber doch hat sich etwas Grundlegendes geändert: Heute ist O. Teil einer globalen Meinungsgemeinschaft in einem globalen Generalkonflikt.
Der Semicon
Vor dem 11. 9. hätte sich mein Freund D. nie träumen lassen, dass er mit O. mal einer Meinung sein könnte. Denn D. kämpft seit seinen Kindertagen gegen Leute wie O. Jetzt findet D., dass da schon etwas dran ist, bei dem, was O. sagt. Gewiss, der Gestus bellizistischer Entschiedenheit ist D.s Sache nicht. D. fällt sich heutzutage oft selbst ins Wort. Er meint zwar auch, dass die „genozidale Reinheitsideologie“ des Islamismus gewissermaßen der Weltfeind unserer Tage ist, kann sich aber im nächsten Augenblick immer noch über den Rassismus echauffieren, den Generalverdacht, der Muslimen heute in den westlichen Gesellschaften entgegenschlägt. Er sieht da wahrscheinlich nicht einmal ein Dilemma. D., der früher ein ziemlich klares Weltbild hatte, ist zu einem Meister der Uneindeutigkeit geworden, und ich muss sagen, dass ich das gut verstehen kann.
O. kann man treffsicher den Neocons zuschlagen, also jenen, die für eine imperiale Außenpolitik der USA eintreten, dafür, die Demokratie mit Gewalt zu exportierten. Zu ihnen zählen heute auch viele, die sich früher als Linke verstanden, schon vor dem 11. 9. aber mit einem gewissen spielerischen Augenzwinkern fragten, ob wir linken Kritiker nicht eigentlich die beste aller Welten kritisieren.
Man soll die Semicons, jene also, die ein paar Meinungen der Neocons teilen, mit ihnen nicht einfach in eins setzen. Und das Milieu der Semicons franst aus – es geht über in den Kreis derer, die schon vor dem 11. September dem eher linken oder liberalen Menschenrechtsbellizismus anhingen, also der Auffassung, dass der Westen gegen Diktatoren und Völkermörder auch militärisch vorgehen sollte.
Letzteres wiederum hat sich gewissermaßen in seine Bestandteile zerlegt: Manche aus diesem Kreis zählen zu den Befürwortern des Irakkrieges, andere zu den schärfsten Kritikern der US-Politik. Der globale Generalkonflikt führt, je nach nationaler politischer Kultur, zu leichten Anpassungen der Frontstellungen: Neo- und Semicons bedeuten in Frankreich, in einem Land mit starken antiamerikanischen Tiefenströmungen, etwas anderes als etwa in Großbritannien, dessen Regierung sich an den US-Feldzügen beteiligte.
Der französische Menschenrechtsbellizist Bernard Kouchner war für den Irakkrieg, ebenso sein amerikanischer Freund Paul Berman, während ihre deutschen Kumpel Cohn-Bendit und Fischer dagegen waren. Der Neokonservativismus eines Bernard-Henri Levy ist etwas anderes als der eines Samuel Huntington, so wie der Antiislamismus eines André Glucksmann von anderen Voraussetzungen zehrt als der einer Ayaan Hirsi Ali. Das kompliziert die Dinge, bestätigt aber umso mehr, dass hier ein neuer Generalkonflikt die internationale Debattenlage neu konfiguriert.
Die Antiimperialistin
Ich bin etwas irritiert, wenn ich dieser Tage meinen E-Mail-Account öffne. Da häufen sich in den vergangenen Wochen die verstört-drängenden Nachrichten von T., die in Jerusalem lebt und seit Menschengedenken in der israelischen Friedensbewegung aktiv ist. War T. früher eine Friedensaktivistin in einem letztlich lokalen Konflikt, markiert ihre Position heute radikale Dissidenz gegenüber einer globalen Konfliktlage. Das macht ihre Haltung noch einmal einen ordentlichen Dreh minoritärer.
Was soll das Gequatsche bei euch über den Islamismus, den man bekämpfen muss, fragt sie. Habt ihr in den letzten fünf Jahren vergessen, dass Krieg scheiße ist, Besetzung nur Hass gebärt und das Töten kleiner Kinder nie „verhältnismäßig“ sein kann? Ich muss sagen, dass mich der kompromisslose Moralismus T.s tief anrührt. Ich frage mich dann, ob T. nicht Recht hat. Der WOT ist ja in vieler Hinsicht ein asymmetrischer Krieg, und eine der Asymmetrien ist schließlich, dass die global hegemoniale westliche Kultur mit der Rache der Outcasts konfrontiert ist.
In der Mitte
Natürlich gibt es immer noch Mittelpositionen. Eine solche kluge Mittelposition, stelle ich mir vor, müsste nicht nur die Frage stellen, welche Haltung zu alldem mit Recht eingenommen werden könnte, sondern auch noch die Frage nachschieben, welche Auswirkung eine eingenommene Haltung auf die Gegenseite hätte. Sie würde, gerade wenn sie die Gefahr des Islamismus nicht negiert, mit den Augen der anderen Seite zu sehen versuchen.
Leute, die ähnlich denken wie mein Freund O., sind natürlich der Meinung, dass jeder Versuch, die anderen „zu verstehen“, schon eine Art Kotau vor der Aggression des neuen Totalitarismus ist. Das Problem des kleinen Lagers der Verständigung ist freilich der pfäffische Geruch, der es umgibt, besonders, wenn ein „Dialog der Religionen“ gefordert wird.
Ich habe mir ein paar hübsche Redensarten zurechtgelegt, etwa die, dass der Platz zwischen den Stühlen doch eigentlich eine recht bequeme Sitzgelegenheit ist. Das gibt meiner Meinung die Aura des heldenhaft Uneinverstandenen. Damit kann ich mich als solitärer Vernünftiger in einem Meer von Wahnsinn geben, als einer, der sich dem entzieht.
Aber natürlich fragt sich, ob das denn überhaupt eine vorzeigbare Meinung ist. Sich rauszuhalten, dies zeigt die Erfahrung, heißt ja auch stets, keinen Einfluss mehr auf die intellektuelle Situation zu nehmen – die wird schließlich von den Entschiedenen bestimmt. Was übrigens wiederum eines der paradigmatischen Kennzeichen der Situation seit dem 11. September 2001 ist.