: Unerträgliche „Experten“
betr.: „Bühne frei für Profiteure“, taz vom 8. 9. 06
Der amerikanische Psychologe Stanley Milgram zeigte in den 60er-Jahren, wie weit die Bereitschaft normaler Leute ging, autoritären Anweisungen Folge zu leisten: In einer fiktiven Versuchsanordnung ließen sich durchschnittliche amerikanische – und in einer Wiederholung auch deutsche – Testpersonen im so genannten Milgram-Experiment durch sozialen Druck dazu bringen, vorgebliche Versuchsteilnehmer mit Stromstößen zu „bestrafen“, die diese in Wirklichkeit zu Tode gebracht hätten.
Der vergangene Mittwoch auf RTL und später dann auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern war leider kein Experiment: Natascha Kampusch war nicht fiktiv betroffen, sie wurde und wird faktisch weiterhin zum Opfer gemacht. Und die Täter sind, neben einer geiernden Öffentlichkeit und marktorientierten Redakteuren, besonders jene Experten, die vom hohen Ross schwadronieren und in unverantwortlicher Weise Ferndiagnosen von sich geben, obwohl sie sich doch mit seelischen Nöten auskennen sollten.
Als gelegentlich von den Medien angefragter „psychologischer Experte“ weiß ich, wie leicht es ist, in die Fänge absurder medialer Fragestellungen zu geraten, und wie schwer, sich daraus mit Anstand zu befreien. Aber genau das ist von einem „Experten“ zu erwarten: Moral und Überblick. Was wir seit dem Interview von Natascha Kampusch an Stellungnahmen von „Experten“ lesen oder hören mussten, ist einfach unerträglich. Stefan Baier, Offenbach
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