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Archiv-Artikel

Irgendjemand muss ihn kennen

VON SUZAN GÜLFIRAT

Eine Großdemonstration gegen einen Unbekannten, das hatte es in Deutschland noch nicht gegeben. In Kassel zogen Anfang Mai rund zweitausend Türken und ihre Familien auf die Straße, um gegen eine Mordserie zu protestieren, gegen einen auf freiem Fuß befindlichen Serienmörder in Deutschland.

Der Zug der Protestierenden lief durch die Stadt, um die Bevölkerung aufzurütteln. Denn diese Kette an bisher unerklärten Morden, ein sich über Jahre erstreckender, europaweit einmaliger Fall, kostete bisher neun Menschen zwischen Rostock und Nürnberg das Leben, acht von ihnen Türken, einer ein Grieche – den der Mörder vermutlich für einen Türken gehalten hatte.

Sie alle wurden mit offenbar ein und derselben Handfeuerwaffe erschossen, einer Ceska 83, Kaliber 7,65. Und jeder von ihnen hatte ein ganz normales, bescheidenes, unauffälliges Leben geführt. Alle Ermordeten waren kleine Gewerbetreibende, Kioskbesitzer etwa oder Imbissinhaber. Bis auf einen Mann, der als Aushilfskraft gearbeitet hatte. Alle Opfer wurden an ihrem Arbeitsplatz erschossen, alle, als sie dort allein waren, oft am frühen Morgen, stets „aus heiterem Himmel“.

Alles schien möglich

Bisher, so berichten die Ermittler, ließen sich bei keinem der Opfer eine Verbindung zum kriminellen Milieu, Gesetzesbrüche oder dunkle Flecken in der Vergangenheit feststellen. Auch keine Verbindung der einzelnen Opfer untereinander. Nichts schien geklärt, und alles schien möglich – Rassismus, Mafia, die Tat eines Psychopathen. Die Polizeieinheit, die zu der Mordserie ermittelt, nennt sich nach einer Region aus dem Herkunftsland der Opfer: Bosporus.

„Bitte, helft der Polizei, damit nicht noch mehr Menschen sterben“, bat der Angehörige eines der türkischen Opfer auf der Kasseler Demonstration seine Landsleute. Denn von dem Täter oder den Tätern fehlt jede Spur. Seit ziemlich genau sechs Jahren schon beschäftigt diese Mordserie Sonderkommissionen in Bayern, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen.

Immerhin hat Anfang August die Sonderkommission „Bosporus“ in Nürnberg erstmals ein Profil des Täters ermittelt. Er soll ein „unauffälliger Einzelgänger“ sein und seine Opfer eher zufällig aussuchen. Bisher waren die Ermittler davon ausgegangen, dass der Täter im Auftrag einer kriminellen Organisation tötet.

„Der Mörder ist ein Türkenhasser“, titelten die türkischen Zeitungen daraufhin eher mutmaßend. Tatsächlich vermuten die Ermittler, dass der Täter in der Vergangenheit ein negatives Erlebnis mit einem Türken gehabt haben könnte und nun auf einem individuellen Rachefeldzug mit der Waffe unterwegs ist.

Anhand der Munition ordneten die Ermittler die Getöteten der Mordserie zu. Womöglich benutzt der Täter als Teil einer fetischisierenden Symbolik immer dieselbe Waffe, so lautet eine Hypothese, weil er eine Art Visitenkarte hinterlassen will. In zwei Fällen wurde jedoch noch eine weitere Tatwaffe verwendet, weshalb die Polizei in Betracht zieht, dass es einen zweiten Täter geben könnte.

Warum mussten sie sterben: drei Dönerverkäufer, ein Blumenhändler, ein Änderungsschneider, ein Kioskbesitzer, zwei Obst- und Gemüsehändler und der Mitinhaber eines Schlüsseldienstes? Was hatten sie dem Unbekannten getan? Wen oder was repräsentierten sie für ihn?

Zu der Demonstration in Kassel kam es nach dem bisher letzten Mord, der Anfang April verübt wurde. Während der einundzwanzigjährige Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetladen starb, waren im Nebenraum sogar Gäste. Sie gaben jedoch an, dass sie nichts gehört hätten. Auch darum gehen die Ermittler davon aus, dass der Täter einen Schalldämpfer benutzt. „Er muss den Umgang mit dieser Waffe beruflich oder in der Freizeit trainiert haben“, sagt der Leiter der Nürnberger Sonderkommission, Wolfgang Geier, bei der Präsentation des Täterprofils. Sonst, meint er, könnte der Mörder nicht so genau zielen.

Die erste der Taten geschah am 9. September 2000, an einem Samstag. Wie das jüngste Opfer, Halit Yozgat, starb damals Enver Simsek, 38 Jahre alt, am helllichten Tag. Simsek betrieb in Nürnberg und an anderen Orten einen mobilen Blumenstand. Da sein Nürnberger Verkäufer am Tatwochenende Urlaub hatte, verkaufte der Händler seine Rosen und Lilien selbst. Er wurde an seinem Stand von seinem Mörder angetroffen – und starb.

Ortskenntnis in Bayern

Neun Monate darauf ereignete sich der zweite Mord, ebenfalls in Nürnberg. Weil später auch der sechste Mord in der mittelfränkischen Stadt geschah, weil fünf der neun Morde in Bayern passierten, glauben die Ermittler, dass sich der Lebensmittelpunkt des Täters in dieser Region befindet. Vielleicht hat er hier eine Wohnung oder seine Arbeitsstätte. Die Morde an den Tatorten in Nürnberg, so viel scheint festzustehen, erforderten Ortskenntnis. Seine anderen Opfer fand der Täter meist an Ausfallstraßen oder in der Nähe einer Autobahn – in München, Hamburg, Dortmund und Rostock.

Bayern hat die zunächst ausgesetzten 33.000 Euro Belohnung inzwischen auf 300.000 Euro erhöht. Laut einer neuen Arbeitshypothese der Fallanalytiker ist der Mörder durch einen Beruf wie Kurierfahrer oder Vertreter sehr mobil und zeitlich flexibel, könnte aber auch für ein Umzugsunternehmen arbeiten. Auffällig ist jedenfalls, dass fast alle Taten bei Tag begangen wurden.

„Bosporus“ ermittelt in alle Richtungen. In einzelnen Fällen scheinen heute Kontakte der Opfer zum Rotlichtmilieu festzustehen. Bei einem der Getöteten fanden sich Reste von Rauschgift in einem Koffer; diese Spuren führen bis nach Amsterdam. Doch bei den anderen Opfern gibt es keinerlei Verbindungen zur Drogenszene. Ein gemeinsames Motiv auf diesem Feld kommt somit nicht in Frage. Auch ließ sich die Vermutung nicht erhärten, dass die neun Opfer in irgendeiner Weise in Verbindung zueinander standen. Sie kannten einander nicht, das scheint erwiesen zu sein.

Auch eine vermeintliche Spur vor einigen Monaten erwies sich als haltlos. Am 21. April nahm die Polizei einen Mitarbeiter des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz fest, weil er sich zur Tatzeit in dem Internetladen von Halit Yozgat in Kassel aufgehalten und sich als einziger Zeuge nicht bei der Polizei gemeldet hatte. Der Verdächtige gab an, dass er den Laden kurz vor der Tatzeit verlassen habe. Man ließ ihn gleich wieder laufen.

Ismail Yasgar, fünfzig Jahre alt, als er starb, war das sechste Opfer dieser Mordserie. Am Morgen des 9. Juni 2005 wurde er in seiner Dönerbude in Nürnberg erschossen aufgefunden. Gefahndet wird seitdem nach zwei Fahrradfahrern, denn einige Zeugen wollen solche Männer zuvor beim Dönerstand des Getöteten gesehen haben. Zuvor sollen sie an einer Litfaßsäule an anderer Stelle den Stadtplan von Nürnberg studiert haben. Doch was man von ihnen weiß, ist so vage wie die üblichen Täterbeschreibungen, die Zufallszeugen oft liefern: Beide Männer hatten dunkle, kurze Haare und waren auffallend schlank. Sie sollen etwa 25 bis 35 Jahre alt und etwa 185 bis 190 Zentimeter groß sein.

Ein dunkles Märchen

Das Rätsel aber bleibt ungelöst, diese die Gedanken von Polizei und Bevölkerung beschäftigende nerventestende „schwarze Serie“ von Tötungsdelikten. Nicht nur auf türkische Kinder, die davon durch die Gespräche der Erwachsenen etwas mitbekommen, wirkt diese Geschichte wie ein dunkles, unheimliches Märchen, das Realität wurde – und weiter werden kann.

So baten die Chefermittler unlängst in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ um Hilfe aus der Bevölkerung. Eingeblendet wurde die Karte Deutschlands mit den Tatorten und Tatdaten, deren Kontext womöglich die wichtigste Spur darstellt. Wer kennt jemanden, fragten sie, dessen Wege durch die Republik sich mit dem Muster dieser Orte decken? Irgendwo da draußen kennen ihn sicher viele. Sie wissen es nur nicht.