„Arbeit verliert nicht an Bedeutung. Leider“

Neue Armut und Prekarität sind heute die Regel geworden, sagt der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel. Zum Ziel der Vollbeschäftigung gibt es jedoch keine echte Alternative, will man die wachsende Exklusion überwinden

taz: Herr Castel, das Unbehagen am Kapitalismus – etwa das Unbehangen über die Unsicherheit, die sich überall einnistet – scheint immer größere Kreise zu ziehen. Ist dieses Gefühl nicht ein wenig übertrieben?

Robert Castel: Es gibt das verallgemeinerte Gefühl der Unsicherheit. Paradox, denn in Ländern wie Frankreich oder Österreich sind die sozialen Sicherheitsnetze doch noch recht eng geknüpft. Nur: Man spürt, wie dieser Schutz bedroht ist. Das wirkt sich auch auf unser Zeitgefühl aus: Das Morgen kann schlechter sein als das Heute. Bis vor dreißig Jahren waren sich die meisten Menschen recht sicher, dass das Morgen besser wird als das Heute. Man glaubte an den gesellschaftlichen Fortschritt. Dieser Glaube ist verflogen.

Rückblickend erscheinen die Siebzigerjahre aus dieser Perspektive plötzlich wie ein goldenes Zeitalter, als Höhepunkt der Vollbeschäftigung. War das der Moment, in dem die soziale Frage und auch die Gerechtigkeitsfrage gelöst waren?

In Frankreich nennt man die Jahre von 1945 bis 1975 schon die „glorreichen Dreißig“. Sie waren natürlich gar nicht so glorreich. Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten haben natürlich auch damals bestanden. Aber es gab einen beachtlichen ökonomischen und auch gesellschaftlichen Fortschritt. Vergleichen Sie doch nur die Lage eines Proletariers aus dem 19. Jahrhundert mit einem kleinen Arbeiter in den 70ern! Letzterer konnte sich sicher sein, dass er seine Zukunft meistern wird. Er konnte sogar planen, seine Kinder auf die Universität zu schicken. Kurzum: Er konnte sich sicher fühlen – und diese Sicherheit gab ihm soziale Unabhängigkeit, also Freiheit.

Was waren die Gründe für diesen Fortschritt? Dass Unternehmer und Arbeitnehmer im Grunde an einem Strang zogen?

Ich würde eher von einem Kompromiss sprechen. Die systemische Macht der Unternehmerseite blieb unangetastet, aber im Gegenzug erhielten die Arbeitnehmer soziale Garantien. Und es war mehr als ein Kompromiss: Es gab Synergien, die beiden Seiten nützten. Die Massenproduktion des Industriezeitalters brauchte Massenkonsum und damit Kaufkraft. Mitte der 70er wird der Kapitalismus dann kompetitiver, was mit dem technologischen Wandel zu tun hat.

War das nicht auch Resultat der Erfolge der sozialen Sicherheit: Erst sie machte die Individualisierung möglich. Diese verträgt sich aber wiederum nur schwer mit Systemen kollektiver Absicherung, oder?

Ja, die Absicherung beförderte den Individualismus. Aber sie hat ihn nicht kreiert. Die Werte des Individualismus haben auch zur Kritik am formalen, bürokratischen Charakter der Sicherheitssysteme geführt. Und diese Kritik ist ja nicht falsch.

Womöglich markiert der Sozialstaat aber auch eine historische Phase, die irgendwann vorbei ist. Er ist ja bislang nur im nationalen Rahmen verwirklicht. Kann er in der Globalisierung überdauern?

Wenn wir von einer Gesellschaft der Individuen sprechen, dann ist es zweifellos schwieriger, Sicherheit zu garantieren. Aber es ist ebenso nötig. Mehr Individualismus heißt ja nicht, dass Individuen weniger Schutz bräuchten – im Gegenteil.

Was wir heute erleben, ist das Entstehen neuer Segmente der Unsicherheit – Stichwort neue Armut, Prekarität. Kehrt das alte Elend wieder zurück?

Armut gab es in der gesamten Geschichte. Aber in den früheren Phasen der industriellen Gesellschaft handelte es sich weitgehend um integrierte Armut. Wenn man heute von neuer Armut spricht, fällt schnell das Wort von den Exkludierten: Leute, die durch chronische Arbeitslosigkeit abgedrängt werden, die in keiner Weise mehr integriert sind. Leute, die das Gefühl haben, dass sich um sie keiner mehr kümmert.

Früher war das anders?

Diese Situation ist tatsächlich eine total andere als die des Proletariats vor 150 Jahren. Die Arbeiter waren vielleicht ausgebeutet und unterdrückt. Aber sie waren es auch, die die Fabriken am Laufen hielten: Das System brauchte sie. Nur deshalb konnten sie Forderungen stellen. Heute repräsentieren die Exkludierten überhaupt keine gesellschaftliche Dynamik. Sie sind für das System unnütz.

Sie können nur mehr blind um sich schlagen, wie etwa die Jugendlichen in den französischen Vorstädten?

Das sind dann die Reaktionen aus der Verzweiflung heraus. Gewalt, auch Gewalt gegen sich selbst, Drogenkriminalität: Das sind Revolten derer, die nichts haben – nicht einmal die Hoffnung, dass sich ihre Situation verändern könnte.

Das sind die Extremzonen – aber die Sphäre der Prekarität reicht doch sehr viel weiter.

Man muss zunächst daran erinnern, dass in einem Land wie Frankreich seit mehr als zwanzig Jahren etwa zehn Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind. Das heißt, dieser neue Kapitalismus ist nicht fähig, Vollbeschäftigung herzustellen und zu garantieren. So entstehen neue Formen der Unterbeschäftigung – Teilarbeit, befristete Arbeit, die Generation Praktikum, Working Poor.

Muss man nicht auch die Schwarzarbeit da hinzuzählen?

Ja, dieser gesamte Bereich der persönlichen Dienstleistungen – wenn man genau hinsieht, sind das meist Jobs mit ein paar Stunden in der Woche unter sehr ungesicherten Bedingungen. Wir beginnen das erst zu verstehen: Prekarität ist weder etwas Marginales noch etwas Temporäres. Es ist ein stabiles, chronisches, objektives Phänomen.

Müssen wir uns also überlegen, wie wir die Leute durchbringen, die nie in stabile Beschäftigung kommen werden?

Ich teile diese Haltung nicht. Man drängt die Arbeitslosen zur Arbeit, man bezeichnet sie als faul, man spricht sie schuldig. Das heißt auch: Arbeit wird als gesellschaftlicher Wert gesehen, fast mehr denn je. Ich finde die Diskurse über das Ende der Arbeit blödsinnig. Die Arbeit verliert nicht an Bedeutung. Das ist gerade das Problem: Keine Arbeit zu haben ist etwas extrem Bedeutendes – im negativen Sinn. Es ist geradezu absurd: Es gibt Arbeitslosigkeit. Und es gibt eine Art Erpressung zur Arbeit. Es gibt keine Infragestellung der Arbeit, aber eine Infragestellung der Kategorie „Anstellung“.

Vollbeschäftigung kann also das Ziel bleiben?

Ja, aber ohne flächendeckende Anstellungsverhältnisse. Das bedeutet dann vielleicht nicht mehr voll abgesicherte Beschäftigung für alle. Aber das Ziel einer allgemeinen Integration in eine aktive Gesellschaft dürfen wir nicht aufgeben.

INTERVIEW: RUDOLF BALMER
UND ROBERT MISIK