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Archiv-Artikel

„Nichts ist schockierender als die Wirklichkeit“

ORAL HISTORY Wieder-Erzähler des Alltags: Ein Gespräch mit dem chinesischen Autor Liao Yiwu, der endlich Europa besuchen darf

Der 15. Ausreiseversuch

■ Liao Yiwu wurde international durch sein Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ (Fischer Verlag) bekannt, das „Gespräche vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft“ enthält, so der Titel der chinesischen Ausgabe. Nach der Veröffentlichung seines Gedichts „Massaker“ über die Vorkommnisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 saß er vier Jahre im Gefängnis. 14 Mal wurde er an der Ausreise aus China gehindert, jetzt ist er auf Einladung des Internationalen Literaturfestivals endlich in Deutschland und bis Ende Oktober Gast der Autorenresidenz des Hotel Bleibtreu in Berlin, wo er auch einen Blog schreibt (www.literaturraum.de).

INTERVIEW SUSANNE MESSMER

taz: Herr Liao, Sie haben zehn Jahre lang erfolglos versucht, aus China auszureisen. Wie kommt es, dass Sie plötzlich hier sind?

Liao Yiwu: Ich fühle mich in der Tat wie ein Bauer, der jede Menge Zeit hatte, sein Ackerland zu bestellen. Aber ich habe den Kampf nie aufgegeben. Ich denke, ausschlaggebend war mein Brief an Angela Merkel, den ich Anfang des Jahres an sie geschrieben habe und in dem ich an sie appellierte, sich meines Falles anzunehmen – auch wenn ich damals noch einmal daran gehindert wurde, nach Deutschland zu reisen. Sie holten mich aus dem Flugzeug, als ich in Köln lesen sollte. Was diesmal genau passiert ist, das weiß ich wirklich nicht. Zum Glück bin ich inzwischen locker geworden, was diese Sache angeht. Ich habe ja auch viel geübt, damit umzugehen.

Und deshalb werden Sie auch nach China zurückkehren, wenn Sie dürfen?

Ich bin Schriftsteller, ich schreibe über Chinas Unterschicht. Auch wenn ich heute anfangen würde, Deutsch zu lernen: Meine Sprachkenntnisse würden niemals ausreichen. Ich wäre hier arbeitslos.

Hätten die Deutschen so viel zu erzählen wie die Chinesen?

Das würde ich meinen. Ich war in den letzten Tagen viel in Berlin unterwegs, auch in einfachen Kellerkneipen. Und da saßen solche Typen herum, wie sie mich interessieren. Ich habe das Gefühl, dass es hier viele Geschichten zu erzählen gibt, die unter die Haut gehen. Es ist so eine Ahnung. Das Problem ist, dass mich die Geschichten hier nie so berühren würden wie die Geschichten in China.

Gefällt es Ihnen hier nicht?

Doch! Ich werde hofiert! Ich habe seit Langem einmal wieder das Gefühl, dass ich ein Schriftsteller bin. In China werde ich eher nicht als Schriftsteller gesehen.

Aber Sie haben doch sicher viele chinesische Leser?

Das schon. Kürzlich hat mich sogar ein Taxifahrer erkannt und gleich gemeint, ich müsste seine Geschichte aufschreiben. Er sprach von seinem schweren Leben, von der Korruption und so weiter. Ich bin die Stimme der einfachen Leute. An mich können die Leute ihre Anklage richten. Das finde ich interessant. Meine Bücher sind zwar nur in Hongkong und Taiwan erschienen, aber dadurch gab es in China viele Raubkopien. Ich kann damit kein Geld verdienen. Aber die Kopien sind so billig, dass meine Bücher vielleicht von mehr Leuten gelesen worden sind als die der erfolgreichen, staatstragenden Schriftsteller.

Das sind die, die meinen, die Zensur habe sich gelockert?

Genau die. Autoren, die nie über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 oder die große Hungersnot Ende der fünfziger Jahre schreiben würden.

Haben Sie das Gefühl, im Ausland eher als Dissident wahrgenommen zu werden denn als Schriftsteller?

Als ich letzte Woche zwei Tage in Paris war, ist mir etwas Komisches passiert. Ich wurde dort von einer Gruppe von Chinesen vereinnahmt, die irgendwelchen Auslandsparteien angehören. Es hieß, man setze große Hoffnungen auf mich. Und ich saß nur dumm herum. Ich fand es viel interessanter, was ich später erfuhr. Ich fragte einen dieser Parteivertreter, wie er sein Geld verdient. Von solchen Parteien kann man ja nicht leben. Und da erzählte er mir: Er schleicht sich an chinesische Touristengruppen heran und verdingt sich als Touristenführer. So zahlt er seine Miete. Aber zurück zu Ihrer Frage: Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem Dissidenten und einem Schriftsteller wie mir. Ich bin nicht politisch. Ich bin ein kritischer, moralischer und ästhetischer Gegner.

Ist das nicht noch gefährlicher für das offizielle China?

Das mag schon sein.

Ich würde Sie gern auch über Ihr Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ ausfragen, das war ja nicht möglich, als es vor einem Jahr hier erschien. Ein Buch wie Ihres zu schreiben erfordert viel Neugier und Einfühlungsvermögen. Man muss Mitgefühl zeigen.

Nicht unbedingt. Ich bin hauptsächlich Zuhörer. Oft nehmen mich meine Gesprächspartner gar nicht wahr. Ich stelle mich dumm und sage nur immer: Wirklich? Oder: Erzähl doch mal!

Sie üben sich in chinesischer Bescheidenheit! Ich finde, das Gegenteil ist der Fall: Sie intervenieren in den Gesprächen oft stark. Zum Beispiel fachsimpeln Sie mit Ihren Gesprächspartnern, als ob Sie selbst Komponist, Mönch oder Ausbrecherkönig wären!

Da haben Sie Recht. Ich brauche viel Zeit, um mich auf ein Gespräch vorzubereiten. Ich studiere Quellen, rede mit Fachleuten. Die Kunst ist es, das im Gespräch so gut wie möglich zu verstecken.

Wie ist das, wenn Sie einen neuen Gesprächspartner treffen? Wie gewinnen Sie sein Vertrauen?

Ich habe schon mehr als 300 Gespräche geführt, und bei jedem war es anders. Manche habe ich nur einmal getroffen, manche viele Male. Den Leichenschminker habe ich zum Beispiel sieben Mal getroffen. Und ich musste mich jedes Mal mit ihm besaufen. Nur in diesem Zustand kam er ins Erzählen. Andere erzählen ganz freimütig, denn sie haben sonst niemanden, dem sie ihre Geschichten erzählen können.

Sie gehen tiefe Bindungen mit Ihren Gesprächspartnern ein.

Ich denke viel an sie. Ich trauere um die Älteren, wenn sie sterben. Mit anderen bin ich bis heute befreundet.

Gab es manchmal Schwierigkeiten, wenn Ihre Gesprächspartner über heikle Themen sprachen, zum Beispiel über das Massaker 1989?

Über solche Dinge spricht man in China unter der Hand frei. Außerdem trete ich diesen Leuten nicht als Schriftsteller gegenüber. Ich begegne ihnen auf Augenhöhe.

Gab es Probleme, wenn Ihre Gesprächspartner von schmerzhaften Erfahrungen erzählten?

Ja, natürlich. Es gibt Erlebnisse, für die gibt es keine Sprache. Ich habe kürzlich eine Mutter getroffen, die ihre Tochter beim Erdbeben in Sichuan verloren hat. Sie musste den Leichnam ihrer Tochter selbst ausgraben. Sie konnte das kaum erzählen. Sie schrie und weinte eine ganze Stunde lang. Ich habe das mit der Kamera aufgezeichnet. Es ist eine Erzählung ohne Worte geworden.

Ist es gefährlich für Ihre Gesprächspartner, mit Ihnen zu sprechen?

Nein. Die Leute, die ich spreche, haben in dieser Gesellschaft überhaupt keine Stimme.

Manche der Gespräche, die Sie geführt haben, mussten Sie aus dem Gedächtnis protokollieren. Trotzdem wirken die Erzählungen so bunt. Fast zu lebendig, um wahr zu sein. Wie wichtig ist es Ihnen, die Sprache und den Ton Ihrer Gesprächspartner zu treffen?

Ich bin ein Wieder-Erzähler. Ich erzähle die Geschichten eines Erzählers, der oft nicht genau weiß, dass er erzählt. Ich wähle das Wichtige aus und bringe es in eine Reihenfolge. Wie ein Filter. Aber ich schreibe die Geschichten nicht in meiner Sprache auf. Ich spreche Hochchinesisch, ich habe von meinem Vater eine umfängliche, klassische Sprachausbildung erhalten. Das kann man von meinen Gesprächspartnern oft nicht behaupten.

In was für einer Familie sind Sie denn aufgewachsen?

Mein Vater war Chinesischlehrer am Gymnasium. Ich war für ihn kein gutes Kind. Er wollte, dass ich viel lerne und besser werde als er selbst. Ich konnte während der Kulturrevolution keine Schulausbildung genießen, also habe ich auch nicht die Aufnahmeprüfung zur Universität geschafft. Wir hatten uns nichts zu sagen. Erst auf dem Sterbebett hat er erfahren, dass ich ein Schriftsteller geworden bin und in China sogar einen gewissen Namen habe. Er las mein Buch. Und er fing an, mit mir zu sprechen. Er sagte, dass er mir so viel zu erzählen hätte. Ich hinderte ihn daran, denn er war krank und sollte sich ausruhen. Nach zwanzig Tagen ist er gestorben. Ich hatte keine Chance mehr, mit ihm zu sprechen. Das war so schmerzhaft! Es tut bis heute weh.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Kein Problem. Sprechen wir wieder über mein Buch.

Also gut. Können Sie sich noch an Ihr allererstes Gespräch erinnern?

Das war, als ich im Gefängnis saß, Anfang der neunziger Jahre. Ich saß mit einem Mörder in der Zelle, der bald hingerichtet werden sollte. Er war außer sich. Er führte Selbstgespräche. Ich wollte das gar nicht mit anhören. Seine Geschichte hat mich fast wahnsinnig gemacht. Und ich fühlte mich regelrecht genötigt, sie aufzuschreiben.

Also ist dieses Genre eher zu Ihnen gekommen, als dass sie es sich ausgesucht hätten?

Definitiv.

Und Sie haben nicht gewusst, was Oral History ist? Dass es so etwas wie eine Literatur der Gesprächsprotokolle gibt?

Die Theorie überlasse ich lieber den Professoren. Mein Kopf funktioniert nicht mehr so gut.

Es gibt jetzt einige Autoren und Filmemacher, die auch in China Geschichten des privaten Lebens, Alltagsgeschichten von unten sammeln. Wie stehen sie dazu?

Es ist noch nicht genug. Ich denke, alle Schriftsteller in China sollten ihre Bibliothek verlassen und ins Leben eintauchen. Wenn das alle machen würden, wäre das ein Anfang. Ich finde in China im Moment nicht viele Bücher, die mich interessieren. Keins ist so eindrücklich und so schockierend wie die Wirklichkeit. Die meisten Autoren machen ihre Hausaufgaben nicht.

Diese Woche werden der Friedensnobelpreis und der Nobelpreis für Literatur verliehen. Wird es dieses Jahr ein chinesischer Schriftsteller werden?

Das weiß ich nicht.

Was würde der Preis verändern, wenn Sie ihn bekämen?

Ich würde den Verstand verlieren.

Sie würden sich einen Mercedes kaufen?

Wahrscheinlich. Ich bin schwach.

Im Ernst: Was kann der Westen für Schriftsteller und Künstler wie Sie tun?

Der Westen muss begreifen, dass es eine ganze Menge Leute gibt, die nach dem Massaker 1989 in den Untergrund gegangen sind und dort noch immer leben. Das sind Leute, die nie aufgegeben haben. Sie brauchen einen Funken Hoffen. Eine finanzielle Nothilfe wäre gut. Ich kenne einen Underground-Künstler, der am sechzigsten Geburtstag der Volksrepublik China im letzten Oktober eine Performance gemacht hat. Er hat sechzig lebendige Fliegen gefressen. Der Westen müsste ihm vermitteln, dass es Dinge gibt, die besser schmecken als Fliegen.