Die große Suche

DAS 21. JAHRHUNDERT Vom 11. September 2001 bis zur Finanzkrise 2008: Die erste Dekade des neuen Jahrtausends aus der Sicht des britischen Historikers Timothy Garton Ash

Er fährt selbst an die Orte, an denen Geschichte gemacht wird, redet mit lebenden Menschen

VON RALPH BOLLMANN

Wenn Historiker ins Träumen kommen, dann geht es meist um große Bücher. In diesem Fall um eines, das noch nicht geschrieben ist. „Ein geradezu wagnerianisches Gesamtkunstwerk der modernen Geschichtsschreibung“ wünscht sich Timothy Garton Ash, eines, das den Umbruch von 1989 in Ost- und Mitteleuropa in seiner ganzen Breite erfasst. Auch vom geeigneten Autor hat Garton Ash eine präzise Vorstellung: „Er müsste vielsprachig sein; den Blick zugleich auf die Machthaber wie auf die sogenannten kleinen Leute richten; er müsste schreiben können; eine Festanstellung, aber nicht zu viele Lehrverpflichtungen haben; er müsste finanzielle Mittel für Recherchen in mehreren Ländern zur Verfügung haben, und er müsste ein Workaholic mit mönchischem Privatleben sein.“

Es ist schwer, aus diesen Sätzen kein Selbstporträt des britischen Historikers herauszulesen, vom Mönchtum vielleicht abgesehen. Vorerst hat er allerdings keine neue Monografie vorgelegt, sondern eine Sammlung seiner Beiträge, die vor allem in der New York Review of Books und dem Guardian erschienen sind. Vorerst mag ein solches Patchwork auch die angemessene Form sein für ein Jahrzehnt, das einen Namen bislang entbehrt – von den „Nuller Jahren“ jedenfalls mag keiner reden. Für eine erste Zwischenbilanz der Zeit zwischen den Terroranschlägen des 11. September 2001 bis zum knapp vermiedenen Zusammenbruch der globalen Finanzmärkte im Herbst 2008.

Berühmt geworden ist Garton Ash mit dem Buch, das er vor zwanzig Jahren aus der Perspektive des historisch gebildeten Zeitzeugen über die Revolutionen in Osteuropa schrieb. Als Mittdreißiger war er damals eines jener intellektuellen Wunderkinder, die die Angelsachsen so lieben – und die wir so bewundern. Auch wenn dieser Typus in Deutschland niemals eine Chance hätte, sich durchzusetzen.

Sein Temperament hat er sich über die beiden Jahrzehnte hinweg bewahrt, methodisch wie stilistisch bewegt er sich auf der Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Journalismus. Er macht, was seine deutschen Zeithistorikerkollegen niemals tun: Er fährt selbst an die Orte, an denen gerade Geschichte gemacht wird. Er beschreibt, was er dort erlebt, plastisch und mit den Mitteln der Reportage. Er redet mit lebenden Menschen. In freier Assoziation, mit Bezügen auch zu Literatur und Kunst, knüpft er Verbindungen zwischen den Phänomenen und schöpft daraus seinen Erkenntnisgewinn.

„Ein Jahrhundert wird abgewählt“ hieß sein Buch von 1990. Bei den Umwälzungen der jüngeren Zeit ist er mit der historischen Einordnung vorsichtiger. Er spricht im englischen Original lieber vom Jahrzehnt als vom Jahrhundert, das ihm der deutsche Verlag für die Übersetzung abgerungen hat. Ein bisschen erinnert Garton Ash in seinem Verhältnis zu 1989 an seinen deutschen Historikerkollegen Heinrich von Sybel, der nach der Reichseinigung von 1871 schrieb: „Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?“ In Garton Ashs Worten liest sich das dann so, dass die Epoche der samtenen Revolution „für lange Zeit die letzte Gelegenheit dazu war, in Europa Weltgeschichte zu schreiben“ – mit dem versöhnlichen Zusatz, „dass nichts diesem Kontinent besser bekam als sein Abtreten von der Bühne“.

So bleiben die Demokratiebewegungen ein beherrschendes Thema seiner Essays. Ständig ist er auf der Suche nach politischen Entwicklungen, die das Erbe von 1989 aufnehmen und weitertragen. In Serbien, der Ukraine oder Weißrussland, auf vertrautem osteuropäischem Terrain. Aber auch im Iran oder in Birma. Und rückblickend in Portugal, wo er die Nelkenrevolution von 1974 als erstes Beispiel einer samtenen Revolution beschreibt. Getragen sind diese Passagen von einem liberalen Optimismus, der vorübergehende Rückschläge einkalkuliert, sich aber nicht entmutigen lässt – Garton Ash als eine Art historisch versierter Joachim Gauck von jenseits des Ärmelkanals.

Aber es ist nicht der beschränkte Erfolg orangener und grüner Revolutionen, der die Bilanz des zurückliegenden Jahrzehnts so prekär macht. Es ist vor allem die Geschichte des 11. September 2001 und seiner Folgen, es ist die politische Bilanz des Präsidenten, der an der Spitze des einflussreichsten Staates das Jahrzehnt prägte: George W. Bush.

Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass er den islamistischen Anschlag auf die New Yorker Hochhäuser in seiner Rolle als historische Zeitenwende für überschätzt hält. Wenn überhaupt, so waren eher die Reaktionen darauf folgenreich. Was im Übrigen auf das Phänomen des Terrorismus insgesamt zutrifft. Für sich genommen hat er das Antlitz der Welt noch nie verändert. Allenfalls konnten ihn kopflose Politiker, wie 1914 nach Sarajevo, zum Anlass nehmen zur Entfesselung eines Weltkriegs.

Andere Themen, konstatiert Garton Ash, sind auf der Agenda mittlerweile nach vorne gerückt. „Probleme werden in der Regel nicht gelöst, sie werden nur von anderen Problemen abgelöst“, schreibt er. Die Krise des globalen Kapitalismus etwa oder die Herausforderung des Klimawandels. Beide stehen jedoch nicht im Zentrum des Essaybandes. Auch bleibt Integration, unabhängig von der Frage des Terrorismus, ein Überlebensthema für die Einwanderungsgesellschaften des Westens.

Obwohl kein gläubiger Christ, geht der Autor mit jenem Fundamentalismus der Aufklärung ins Gericht, dem aus seiner Sicht viele seiner liberalen Freunde verfallen sind. Nicht dass sie Muslime sind, so die These, stört die Europäer an den Muslimen. Sondern dass sie überhaupt religiös sind.

Darauf aber lasse sich eine erfolgreiche Integrationspolitik nicht aufbauen.

Man mag nicht mit jedem einzelnen seiner Urteile übereinstimmen, aber eines zeichnet diesen Autor aus: die Unbeeindruckbarkeit, mit der er sich über gängige Klischees hinwegsetzt und das Korsett ideologischer Festlegungen sprengt. Er bekennt sich (als Brite!) zu Europa, ohne sich deshalb fürs Brüsseler Alltagsgeschäft begeistern zu müssen. Gleichzeitig widersetzt er sich einem zwanghaften Streben nach Originalität und übernimmt dort, wo er sie für richtig hält, auch überaus konventionelle Analysen – etwa mit Blick auf George W. Bush, von dessen intellektuellen Fähigkeiten er anhand eines persönlichen Zusammentreffens im Weißen Haus ein niederschmetterndes Bild zeichnet. Diese Mischung erinnert, trotz des großen Altersunterschieds, ein wenig an Helmut Schmidt.

Es liegt in der Natur einer Sammlung von Essays für den Tagesgebrauch, dass sich die Einschätzungen teilweise auch widersprechen. Besonders eklatant ist das bei der Frage, ob die Menschheit eigentlich noch selbst an ein Voranschreiten zum Besseren glaubt. Einerseits schreibt Garton Ash, eine Vorstellung von Fortschritt gehöre zum politischen Liberalismus untrennbar dazu. Andererseits äußert er in einem Text von 2003 den Verdacht, dass „die Welt irgendwann um die Jahrtausendwende ihren zivilisatorischen Zenit erreicht hat, auf den spätere Generationen mit Neid und Nostalgie zurückblicken werden“. Einen Vorwurf kann man ihm daraus nicht machen.

So bleibt am Ende nur ein Wunsch: dass Garton Ash seinen Traum wahrmacht und nach langer Pause doch wieder ein richtiges Buch schreibt. Nicht über 1989 allerdings, das kann er getrost den Archivaren überlassen. Mit seinem spezifischen Temperament als Historiker sollte er sich lieber um die Probleme der Gegenwart kümmern.

Timothy Garton Ash: „Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000-2010“. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Carl Hanser Verlag, München 2010, 490 Seiten, 25,90 Euro