Der aktuelle Stand des Irrtums

200 Jahre lang lag dort, wo heute Schleswig liegt, die größte Handelsmetropole der Wikinger. Sieben Häuser aus der Zeit werden jetzt wieder aufgebaut. Eine Gruppe ließ sich während einer Tagung an Ort und Stelle über den Stand der Aufbauarbeiten informieren

Die Häuser am Ufer hielten nie länger als zehn Jahre, dann fielen sie um – der Boden war zu feucht

von JOHANNES HIMMELREICH

Der Wind bricht vom Noor über das Schilf ans Ufer, schlägt gegen die Lehmwände der Häuser, trägt den salzigen Duft von Algen und Meer mit sich. Die Ostsee liegt in der Luft. Zwischen dem Wasser und einem Wall liegen unter den knarzenden Holzplanken die Reste einer der bedeutendsten und größten vormittelalterlichen Siedlungen Nordeuropas: Haithabu, die jahrhundertelang verschollene Metropole der Wikinger.

Der Boden hier ist nicht fruchtbar, einen Wald gab es nicht, der Holz für den Bau einer Siedlung geliefert hätte – es ist nur die Nähe zur Ostsee, die diesen Platz für die Siedler vor mehr als 1.000 Jahren interessant machte. Zwei Kilometer südlich von Schleswig, am Haddebyer Noor, einem See mit schmalen Durchlässen zur Schlei, liegt das rund 30 Hektar große Areal. Vom neunten bis zum elften Jahrhundert kreuzten sich hier Handelswege von Skandinavien bis nach Griechenland. Rund 1.500 Einwohner haben während der kurzen Blütezeit in der Siedlung gewohnt, schätzen Forscher.

Vor etwas mehr als 100 Jahren wurde die Siedlung wieder entdeckt. Jetzt gibt es Forschungsergebnisse zum Anfassen: Sieben Häuser der Wikinger-Stadt werden bis 2007 rekonstruiert. Das vierte wurde gerade fertig gestellt. 2,8 Millionen Euro kostet das Projekt.

Eng drücken sich die Häuser aneinander. Bernd Zich, Mitarbeiter des Archäologischen Landesmuseums der Stiftung Schloss Gottorf in Schleswig, muss sich ducken, als er zwischen den weit herabhängenden Dächern aus Reet hindurchgeht. Die fensterlosen Wände sind mit Lehm verputzt, die grauen Balken der Häuser aus massiver Eiche. Keine Eisennägel, keine Holzsäge verwendeten die Wikinger beim Häuserbau. Mit Keilen spalteten sie die meterdicken Eichenstämme.

Zich stößt die Tür des größten Hauses auf. Vierzig Menschen folgen ihm in das dunkle Innere, setzen sich auf die Felle und die Wikinger-Betten in der Mitte des Hauses. Es sind die Teilnehmer der Tagung „Haithabu im Licht neuer Forschungsergebnisse“ der Akademie Sankelmark bei Schleswig. Rentner auf Wochenend-Bildungsurlaub. Eine Frau hat auch bei der Exkursion nach Haithabu ihren Bleistift und ihren Block dabei und schreibt gewissenhaft mit.

An einem Ende des Hauses steht ein Kuppelofen aus Lehm. In der Mitte ist das Schlafzimmer. Wozu das dritte Zimmer diente, wissen die Archäologen nicht genau. Dort gibt es ein Fenster – ein rechteckiges Loch in der Wand, unüblich für ein Wikingerhaus. „Es könnte doch sein, dass es zum Beobachten des Hafens genutzt wurde“, vermutet ein schmaler Herr mit grauen Haaren spontan. „Es war doch nach Norden ausgerichtet – vielleicht wollte ein Händler im Blick haben, welche Schiffe kommen“, versucht er den Archäologen zu überzeugen. Zich ist bemüht, ihm Recht zu geben und gleichzeitig die Deutungen seines Kollegen zu verteidigen, der an der Stelle – auf Grund besonderer Funde im Boden – die Toilette des Hauses vermutet.

Aber sicher ist das nicht. Die Archäologie mache immer Fehler, sagt Zich. „Wir präsentieren hier nur den letzten Stand unseres Irrtums.“ Doch der ist, nach 40 Jahren von der Ausgrabung bis zur Realisierung, relativ sicher. Die Natur kam den Archäologen zur Hilfe.

Die Häuser, die in der Nähe zum Noor standen, hielten nie länger als zehn Jahre. Der Boden war zu feucht, die Häuser fielen um. Für die Bewohner Haithabus war es ein Übel, für die Archäologen ein Glücksfall. Der feuchte Boden konservierte das Holz tausend Jahre lang. Bei einer Grabung Ende der 60er Jahre fanden Archäologen in Haithabu das erste Haus, sogar die Flechtmatten der Wände waren erhalten.

Zich führt die Gruppe zu einem anderen Haus. „Wir haben Flechtzäune angelegt, wie sie auch die Wikinger hatten“, sagt er. – „Dann haben Sie festgestellt, dass die Weide wieder austreibt, wenn man sie in den Boden steckt, ganz egal wie herum“, sagt eine alte Frau und schmunzelt. Zich stockt für einen Moment, „aber jetzt wissen wir auch, wozu die Wikinger die Zäune hatten“, setzt er fort. – „Wegen dem Regen“, sagt eine andere Frau. – „Wegen dem Regen“, sagt auch Zich.

Aufwändige Zeichnungen in Plakatgröße dokumentieren die zwei großen Grabungen, die hier in den 30er und den 60er Jahren durchgeführt wurden, mit vielen Details. Es entstand eine Datenmenge, die die Forscher erst seit kurzem mit Hilfe von Computern auswerten konnten.

Alle Ergebnisse beziehen sich auf den Uferbereich, wo in den 60er Jahren die Häuser gefundenen wurden, die jetzt wieder aufgebaut werden. Mit einer Art Bodenradar wurde das gesamte Areal vor vier Jahren „durchleuchtet“. Jetzt weiß man, wo Hauptwege entlangführten und wo tiefer gelegte Grubenhäuser standen, die auf dem feuchten Grund am Wasser nicht gebaut werden konnten.

Eine große Grabung gab es dort nicht mehr, nur fünf Prozent Haithabus sind „ergraben“ – hinterm Ufer gibt es noch genug Platz für neue Irrtümer.