: Die Schule umzukrempeln fällt schwer
Fünf Jahre nach Pisa sind einige Reformen auf den Weg gebracht. Doch Migranten bleiben die großen Verlierer des Bildungssystems
VON ANNEGRET NILL
Entschieden kommt das dunkelblonde Mädchen mit den locker aufgesteckten Haaren auf die Besucher zu. „Darf ich euch durch die Schule führen?“
Der Spätsommerwind treibt durch Eingangshalle der Montessori-Oberschule Potsdam. Die hohe Fensterfront zum Gartengelände lässt reichlich Licht herein. Was von außen aussieht wie ein verranztes Schulgebäude, wirkt innen freundlich, luftig und warm. Das blonde Mädchen ist Luisa, eine von sechs Schülerinnen und Schülern, die sich freiwillig dafür gemeldet haben, einer Journalistengruppe Schule und Unterricht zu zeigen. Beeindruckt von ihrer Direktheit folgen ihr die Besucher. Es wird der Gang in eine völlig andere Schulwelt.
Deutschland, fünf Jahre nach dem Pisa-Schock. Die ehemalige Schulversuchsschule des Landes Brandenburg ist heute staatlich anerkannte „Schule mit besonderer Prägung“. Die Ergebnisse der Pisa-Studie haben diese Entwicklung sicher begünstigt. „Pisa hat uns gezeigt: Es gibt viele Länder, die Bildungsprobleme besser lösen als wir“, meint Klaus Klemm, Professor für empirische Bildungsforschung in Essen.
Die Pisa-Studie hatte die Lernleistungen vieler OECD-Länder in den zentralen Kompetenzen Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften und Problemlösen untersucht und verglichen. Dabei unterschied sie zwischen fünf Kompetenzstufen. Aufsehenerregend an den deutschen Zahlen war die breite Leistungsstreuung – und die große Zahl von Schülern, die zur Risikogruppe gehören: „Der Anteil von Schülerinnen und Schülern in Deutschland, die lediglich die Kompetenzstufe I erreichen, liegt bei 13 Prozent; fast 10 Prozent erreichen nicht einmal diese Stufe“, hieß es im Pisa-Bericht 2000. Kompetenzstufe eins bedeutet, dass die Schüler gerade mal grundlegende Fähigkeiten im geprüften Bereich haben.
Pisa hat außerdem gezeigt, dass schlechte Schulleistungen mit sozialer Herkunft zusammenhängt. In keinem OECD-Land ist dieser Zusammenhang so stark wie hier.
Fünf Jahre nach Pisa ist diese Botschaft bei allen Parteien angekommen. Weniger durchgedrungen ist die Erkenntnis, dass Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland überproportional häufig zu dieser Risikogruppe gehören. So tragen sie das doppelte Risiko, an eine Sonderschule verwiesen zu werden – Tendenz steigend. Dies weisen neuere Studien der Münchener Soziologin Heike Diefenbach und des Heidelberger Sonderpädagogen Reimer Kornmann nach. Und wer einmal auf einer Sonderschule gelandet ist, hat kaum noch Chancen auf Arbeit und sozialen Aufstieg.
„Wir gehen besonders schlecht mit dieser Gruppe um“, meint Bildungsökonom Klemm und fordert, von Schweden zu lernen. Die Schweden gehen offenbar ganz anders mit diesen Schülern um. Das zeigt ein Blick in die Statistik: Wenn man sich die Testergebnisse der Schüler ohne Migrationshintergrund anschaut, nimmt Deutschland in der OECD-Rangfolge die Plätze 8 (Naturwissenschaften), 9 (Lesen) und 10 (Mathe) ein – das entspricht etwa der Leistungsstärke schwedischer Schüler. Kinder mit Migrationshintergrund allerdings schneiden in Schweden wesentlich besser ab als in Deutschland – weshalb Schweden insgesamt besser dasteht.
Dass Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland derart benachteiligt sind, ist nicht nur in puncto Chancengleichheit ein Skandal. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wird es zum existenziellen Problem. Die Bevölkerung in Deutschland nimmt ab und veraltet. „Um 2020 müsste Deutschland jährlich 1 Million Migranten integrieren, allein um die jetzige Größe der erwerbstätigen Bevölkerung zu sichern“, sagt der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin (FU) und wissenschaftlicher Koordinator der Studie „Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt“, die von der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft (vbw) in München 2003 herausgegeben wurde. Die Integration von Migranten ist laut Lenzen schon deshalb notwendig, um die wachsende Zahl der nichterwerbsfähigen Bevölkerung zu finanzieren und das Sozialsystem zu erhalten. Die enorme Zahl an Risikoschülern kann sich Deutschland gar nicht leisten.
Nach Einschätzung von FU-Präsident Lenzen ist eine erfolgreiche Reform des Bildungssystems nur möglich, wenn der Bildungsetat auf 6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erhöht wird. Bislang steckt Deutschland nur 5,3 Prozent des BIP in die Bildung und liegt auf dem 18. Platz im OECD-Vergleich – und weit hinter den erfolgreichen Pisa-Ländern.
Doch laut Bildungsökonom Klemm sanken die öffentlichen Bildungsausgaben zwischen 2003 und 2004 sogar weiter. Inflationsbereinigt um rund 2 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum mussten private Haushalte etwa 300 Millionen Euro mehr für Lernmittel ausgeben. Dass Versprechungen und tatsächliches Handeln so weit auseinanderklaffen, liegt auch am föderalistischen System. Denn Bildung ist in Deutschland nach wie vor Ländersache. Die jüngste Föderalismusreform hat diese Zuständigkeit zementiert: Der Bund soll sich aus der Finanzierung der Schulbildung ganz heraushalten. Allerdings können die Länder die Mehrausgaben von beinahe 20 Milliarden Euro, die bei einer Bildungsreform à la Lenzen auf sie zukämen, allein gar nicht stemmen.
Immerhin, einige Reformen sind nach dem Pisa-Schock in Gang gekommen. Kindergärten achten heute mehr auf die Sprachkenntnisse ihrer Schützlinge und fördern sie bei Bedarf gezielt. Das letzte Kindergartenjahr ist mittlerweile in fast allen Bundesländern gebührenfrei. Ganztagsschulangebote werden ausgebaut und Bildungsstandards entwickelt.
Leider helfen nicht alle Reformen weiter. So befürchtet Klemm, dass durch den Trend zur Zentralisierung von Abschlussprüfungen und zur zentralen Evaluierung von Schülerleistungen Kinder mit Migrationshintergrund noch stärker benachteiligt werden. Denn gerade sie brauchen individuelle Förderung.
Warum fällt es so schwer, die Schule umzukrempeln? „Es ist eine Grundphilosophie unseres Systems, dass Schüler in homogenen Lerngruppen besser lernen“, sagt Bildungsforscher Klemm. „Dabei ist das nicht bewiesen.“ Im Gegenteil. Länder wie Finnland zeigen, dass ein integratives Schulsystem durchaus beides schaffen kann: eine leistungsfähige Spitzengruppe hervorbringen und trotzdem schwächere Schüler angemessen fördern.
In Deutschland wird die Zukunft der Bildung davon abhängen, ob es gelingt, einen einen konstruktiven Umgang mit Heterogenität und Vielfalt zu lernen und breitere Schülerschichten zu fördern. Die Montessori-Oberschule in Potsdam zum Beispiel versteht sich als integrative Schule. Auch Schüler mit Behinderungen werden hier aufgenommen.
Im ersten Stock kommt den Besuchern der Montessori-Oberschule ein Schüler mit Down-Syndrom entgegen. Allein. Er ist auf dem Weg zu einem anderen Schulraum. Schüler mit Behinderungen seien Teil der Lerngruppen und bekommen zusätzlich besondere Förderung, erläutert Luisa. Die Vierzehnjährige hat die Besuchergruppe überzeugt. Ihr Führungsfähigkeiten hat sie sicher auch der Schule zu verdanken. „Ich hätte das in deinem Alter sicher nicht so gekonnt“, meint ein Kollege aus dem kleinen Pulk, dem die Vierzehnjährige ihre Schule gezeigt hat. Er hat Recht. Vielleicht gibt es ihn doch: den Bildungsweg in die Zukunft.