Ungarn in Unruhe : KOMMENTAR VON RALF LEONHARD
Die Bilder von brennenden Autos und gewalttätigen Randalierern, die in Budapest die Fernsehstudios kurz und klein schlagen, vermitteln kein realistisches Bild von den Protesten der letzten Tage. Stadtbekannte Hooligans nutzten den Anlass, um sich einmal richtig auszutoben. Mit der Empörung über die Rede von Premier Ferenc Gyurcsány hat das eher wenig zu tun. Aber die politische Krise ist real. Doch es ist eine Glaubwürdigkeitskrise, die nicht nur die Regierenden, sondern auch die Opposition betrifft.
Niemand hört es gern, dass er systematisch belogen wird, auch die ungarischen Wählerinnen und Wähler nicht. Allerdings hatte schon vor den Wahlen vom vergangenen April jeder halbwegs klar denkende Mensch erkennen müssen, dass keine der Parteien in Ungarn in der Lage war, ihre vollmundigen Versprechungen einzuhalten. Gyurcsány hat in seiner ehrlichen, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Rede nur ausgesprochen, was jeder wusste.
Seit der politischen Wende in Osteuropa sind mit fast jeder Wahl die Regierungen abgestraft worden, die dem Druck aus Brüssel nachgaben und unpopuläre Reformen durchzogen. Das war auch das Schicksal der sozialdemokratischen Reformregierung von Gyula Horn, die 1998 die Macht an die rechtspopulistische Fidesz abgeben musste. Seither galt Reformverweigerung als Überlebensmaxime. Doch weder in Ungarn noch in einem anderen seiner ehemals sozialistischen Nachbarländer hat jemand ein Konzept, wie man das sozialistische Sozialsystem, das weder Arbeitslosigkeit noch private Konkurrenz zum allgegenwärtigen Staat kannte, ohne Abstriche in die neue Zeit herüberretten kann.
Die Lebenslüge, dass Ungarn den Übergang von der sozialistischen Plan- und Subventionswirtschaft zum westlichen Kapitalismus ohne schmerzhafte Eingriffe meistern würde, sie ist viel zu lange genährt worden. Spätestens mit dem Sparpaket vom vergangenen Juni ist diese Illusion geplatzt.
Premier Gyurcsány hat mit seiner Bekennerrede nun zugleich die Erklärung und die Reue nachgeliefert. Solche späte Ehrlichkeit wird manchmal belohnt, lehrt die Geschichte. Für Ungarn wäre das etwas Neues.
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