Erdogans letzter Verbündeter

KURDEN Der seit 15 Jahren in türkischer Haft einsitzende PKK-Chef Abdullah Öcalan steht felsenfest hinter dem türkischen Premier

ISTANBUL taz | „Der Friedensprozess muss weitergehen“ – das war der zentrale Satz in dem Brief Abdullah Öcalans, der am vergangenen Freitag vor fast einer Million Menschen auf dem Höhepunkt der Feier des kurdischen Frühjahrsfestes Newroz in der südostanatolischen Metropole Diyarbakir verlesen wurde. In dem Schreiben forderte der seit 1999 inhaftierte Chef der Kurdischen Arbeitspartei PKK die türkische Regierung auf, mehr Anstrengung in den Friedensprozess zu investieren.

Vor genau einem Jahr hatte Öcalan ebenfalls per in Diyarbakir öffentlich verlesenem Brief einen allgemeinen Waffenstillstand und den Rückzug der PKK-Kämpfer aus der Türkei angekündigt. Seitdem hat es fast keine Kämpfe mehr zwischen kurdischer Guerilla und türkischer Armee gegeben. Stattdessen kehrten die mehrheitlich kurdischen Gebieten der Türkei zu einer friedlichen Normalität zurück, die die Menschen in vollen Zügen genießen. Zum Jahrestag bekräftigte Öcalan, dass die PKK nicht zum bewaffneten Kampf zurückkehren werde – und forderte den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan auf, nach einem Jahr Dialog, in dem die wechselseitigen guten Absichten getestet wurden, nun zu verbindlichen Verhandlungen überzugehen, an deren Ende rechtlich verbindliche Vereinbarungen stehen müssten.

Während führende Vertreter der Kurdenpartei BDP, wie deren Kovorsitzender Selahattin Demirtas, und auch der amtierende PKK-Chef Cemil Bayik wiederholt ihren Frust darüber artikuliert haben, dass Erdogan für den Friedensprozess nichts tue und sie deshalb nach den Kommunalwahlen einseitig eine Autonomie für die kurdischen Gebiete ausrufen wollen, mahnt Öcalan eher zu Geduld und Zurückhaltung. Das ist umso erstaunlicher, als in den Telefonmitschnitten, die in der Türkei seit Ende Februar täglich verbreitet werden, unter anderem auch Stimmen zu hören waren, die behaupteten, der Mord an den drei hochrangigen PKK-Mitarbeiterinnen in Paris vor knapp einem Jahr ginge auf das Konto des türkischen Geheimdienstes. In einem anderen Leak wird behauptet, Öcalan sei insgeheim von türkischen Ärzten wegen Krebs an der Prostata operiert worden.

All das spielt für Öcalan nur insoweit eine Rolle, als dass er die Angriffe der konservativen Gülen-Bewegung auf Erdogan nahezu identisch wie der Premier als Putschversuch gegen die türkische Regierung wertet. Während die ganze Welt sich darüber aufregt, dass Erdogan mit Twitter-Verbot und anderen Maßnahmen Meinungsfreiheit und Demokratie mit Füßen tritt, ist der PKK-Führer praktisch zum letzten Verbündeten Erdogans geworden. Denn nur mit Erdogan, so die unausgesprochene Botschaft Öcalans, wird der Friedensprozess zwischen PKK und Regierung weitergehen.

Diese Haltung wird direkte Auswirkungen auf die bevorstehenden Wahlen haben. Dafür steht auch, dass der Brief Öcalans vor der Menge in Diyarbakir erneut von einem Politiker verlesen wurde, der selbst gar kein Kurde ist – sondern Türke. Der Regisseur, Schauspieler, Journalist und Abgeordnete des türkischen Parlaments, Sirri Süreyya Önder, ist einer der Vorsitzenden der vor einem halben Jahr gegründeten kurdischen linken Partei HDP, die jetzt bei den Kommunalwahlen im Westen der Türkei anstelle der älteren BDP die Stimmen auch nichtkurdischer linker Wähler holen soll. Önder ist der Kandidat der HDP für Istanbul. Nach Meinungsumfragen wird er rund 5 Prozent der Stimmen in der wichtigsten türkischen Metropole holen.

Diese 5 Prozent werden wahrscheinlich dafür sorgen, dass Erdogan Istanbul nicht an den Kemalisten Mustafa Sarigül verlieren wird. Das würde die Position des Premiers für die Präsidentschaftswahlen im August entscheidend stärken – ganz im Sinne von PKK-Chef Abdullah Öcalan. JÜRGEN GOTTSCHLICH