Der Mittelstand im Rausch

Mittelstandsboulevard: Jürgen Gosch inszeniert Stücke von Yasmina Reza und Roland Schimmelpfennig in Berlin

VON EVA BEHRENDT

An sich haben die Pariser Schriftstellerin Yasmina Reza und der Berliner Dramatiker Roland Schimmelpfennig so viel miteinander zu tun wie ein pferdegeschirrgemustertes Hermèstuch mit einer Baskenmütze von Peek & Cloppenburg. Doch nun hat Jürgen Gosch am Deutschen Theater Berlin innerhalb eines Monats Rezas gepflegten Monolog-Reigen „Im Schlitten Arthur Schopenhauers“ uraufgeführt und Schimmelpfennigs „Satyrspiel“ „Ambrosia“ nachinszeniert, und es spricht einiges dafür, dass der in letzter Zeit zu neuer Hochform aufgelaufene Regisseur mit diesem Doppel inhaltlich etwas im Schilde führte.

Immerhin nehmen beide Dramatiker ein Milieu ins Visier, in dem sich, theoretisch jedenfalls, das Publikum eines Stadttheaters wiederfinden könnte: den alteuropäischen Mittelstand. Der ist, so der Befund der Autoren, menschlich, sozial und geistig am Ende. Egal, von welcher Seite man ihn auch betrachtet. Ganz oben an der sozialen Pyramidenspitze steht Rezas stark parfümiertes Ehepaar Chipman, er Philosophieprofessor, sie Gattin, beide jüdisch, wohlhabend, intellektuell und eigentlich restlos durchtherapiert, aber doch verstrickt genug, um das ganz normale Leid des Alterns derselben Psychoanalytikerin zu klagen. Wo Ariel Chipman seine Krise zur großen Geisteskehre von Spinoza zu Schopenhauer aufbläst, Nadine sich mit Thomas-Bernhard-Sätzen im Kreis dreht und auch die Psychologin von Menschenhass erfüllt ist, hat Chipmans Kollege Serge Othon Weil schon eine Lösung gefunden. Er ist Pragmatiker geworden. Und Optimist. Was ihm die Autorin der acht losen Monologe auch nicht verzeiht: Zur Strafe muss er auf Sex verzichten.

Am unteren Ende der Mittelstandsskala rangiert die Kneipengesellschaft, die Roland Schimmelpfennig versammelt hat. „Ambrosia“, die Götterspeise, ist nämlich nichts weiter als das ungebremste Feierabendbier, unter dessen Einfluss das eigene Elend fast rosig erscheint. Zunächst jedenfalls. Gosch und sein Bühnenbildner Johannes Schütz haben die trinkfreudige Schar in einer zum Publikum hin offenen, bleigrauen Schuhschachtel an eine weiß gedeckte, mit leeren Gläsern und Flaschen übervollen Abendmahlstafel gesetzt; im dunklen Hintergrund werkelt und wartet Kathrin Wehlisch als Kellnerin. Vorn aber reden sieben Männer und eine Frau mit schwerer Zunge über das, was ihre Welt im Innersten zusammenhält: Geschäfte machen („Geld ist momentan so richtig billig“), Neid („Wenn ich etwas hasse, sind es Frauen in der Blüte ihrer Jahre“), Scham und Sehnsucht („Azubi Juliane“). Doch nicht nur Pariser Profs können mit Bildungsgut protzen, auch der deutsche Stammtisch hat seine Lektionen gelernt. Wenn ein Trinklied gegrölt wird, dann stammt es aus Faust II.

Im Laufe des Abends verletzt sich der kotzende Mittdreißiger Gubig (Ingo Hülsmann) schwer auf der Herrentoilette, verliert der Schiffsverkäufer Kronberg Millionen, sackt der alte Gallasch (Horst Lebinsky) unauffällig in den Tod. Doch das sind bloß tragische Effekte im Durchschnittsgesülze. Für das Schimmelpfennig nur eine Ausrede hat: Mehr gibt so ein Mittelstandsrausch ja nicht her! Dem wirkt das Ensemble des Deutschen Theaters fast schon verzweifelt entgegen. Peter Pagels Schiffsverkäufer brabbelt sich glucksend durch seine Rechenbeispiele, Jörg Gudzuhns untergebutterter Hartung schlottert von Kopf bis Fuß unter den beschwipsten Giftspritzen seiner Gattin (Christine Schorn), Stephan Grossmanns weichlicher Rockweiler leckt sich die feucht glänzenden Mundwinkel, und Ingo Hülsmann verwandelt ein kleines schäbiges Pornogeständnis in eine voll und hohl tönende Deklamation. Nur Ernst Stötzner als Hering macht eigentlich gar nichts, verlangsamt sich selbst nur um ein, zwei Nuancen und erzielt damit mehr Komik als alle zusammen.

Im selben, mit nur einem Ledersessel dekorierten Bühnenkasten hatte der Ex-Bochum- und Schaubühnen-Schauspieler Stötzner auch schon in Rezas „Schlitten“ eine auffällig gute Figur gemacht – an der Seite von Ulrich Matthes, Corinna Harfouch und Gabriele Heinz. Während Harfouch und Matthes nacheinander mit übergroßen Gesten und bar jeder Ironie schlimme Seelenkrankheitsbilder ausmalten (die fahrige Hysterikerin, der depressive Wichtigtuer), sammelte Stötzners optimistischer Dampfplauderer Sympathiepunkte. Und verhinderte doch nicht, dass Goschs zweite Reza-Inszenierung ebenso stylisch wie hölzern wirkte.

Das ändert sich in „Ambrosia“ erst gegen Ende. Wie schon in seinem Düsseldorfer „Macbeth“, kürzlich zur Inszenierung des Jahres gewählt, lässt Gosch sein Ensemble sukzessive die Bühne verwüsten. Einer fängt an, ein Glas zum Schwingen zu bringen, ein anderer schlägt mit der Gabel den Rhythmus vor, und nacheinander fallen alle ein, bis die ganze Tafel rockt. Minutenlang. Rotweinflecken, Scherben, irgendwann Theaterblut und angerührte Haferflocken verwandeln die saubere Schuhschachtel in den Schauplatz eines Massakers, auf dem sich Leichen und letzte Liebende türmen.

Im Kleinbürgertum stecken sie also noch, die anarchische Kraft und die Lust am Rausch, die den durchpsychologisierten und doch so zivilisationskranken Intellektuellen längst abhandengekommen ist. So lässt sich das DT-Doppel durchaus deuten. Nicht ganz so schön ist die Erkenntnis, dass im Licht des Mittelstandsboulevards mitunter auch die Mittel des Regisseurs Gosch gefährlich kunsthandwerklich aussehen.