Egoismus allerorten

Das klassische Theater war vorgeblich dem „Wahren, Schönen und Guten“ verpflichtet. Was davon übrig geblieben ist – etwa in Bremen – , erläutert Johannes Bruggaier im Interview

Interview: Henning Bleyl

Ihrer Untersuchung über „Tendenzen im Theater der Gegenwart“ liegen neun Lessing-, 13 Büchner-, 14 Kleist-, 19 Goethe- und 39 Schiller-Inszenierungen zu Grunde. Wie kommt‘s zum Schiller-Überschuss?

Johannes Bruggaier: Schiller ist wohl der klassischste aller Klassiker. Während seine Lyrik eher lächerlich ist, hat er ein dramatisches Gespür wie kein Zweiter. Seine Kernthemen haben noch heute große Bedeutung: das Streben nach Macht, Terrorismus – siehe „Wilhelm Tell“ – und Glaubensverlust, wie er sich mit der „Jungfrau von Orléans“ thematisiert lässt.

Sie haben Inszenierungen im deutschsprachigen Raum nach Tendenzen im Umgang mit den Klassikern abgeklopft. Wo steht Bremen im Spannungsfeld zwischen der gern beklagten „zu freizügigen Bearbeitung“ einerseits und der berüchtigten „Werktreue“ andererseits?

In einer vernünftigen Mitte, es ist ein durchschnittliches Stadttheater. Insofern kann man hier wie andernorts beobachten, dass Pathos abgebaut und Sprache entrhythmisiert wird. Einer der Lieblingsregisseure von Intendant Klaus Pierwoß, Thomas Bischoff, steht beispielsweise für die Tendenz, die früheren Helden als kommunikationsgestörte Figuren zu zeigen.

In Bremen hat Bischoff eine egozentrische Antigone oder einen gar nicht gütigen Fürst Alfonso in „Torquato Tasso“ auf die Bühne gebracht. Und die finalen „allseitigen Umarmungen“ in „Nathan der Weise fanden“ auch nicht statt.

Gerade die Antigone lernen die Zuschauer bei Bischoff unter einer völlig neuen Perspektive kennen. Sie begräbt ihren Bruder entgegen des Befehls des Königs nicht aus Geschwisterliebe, sondern weil sie partout Märtyrerin werden will. Man lernt bei Bischoff, dass hinter der Fassade des „Wahren, Schönen und Guten“ lediglich die Durchsetzung der eigenen Interessen steht.

Gleichzeitig inszeniert er extrem statisch.

Viele sähen das anders, wenn sie über seine Weltsicht informiert wären. Und die lautet eben: Der Mensch denkt immer nur an sich. So gesehen bekommen die zynischen Haltungen und der rüde Sprechton, die sonst furchtbar langweilig sind, ihren Sinn. Aber anstatt so etwas zu erläutern, waren die Bremer Programmhefte in den vergangenen Jahren eher eine Sammlung von Aphorismen – unter dem Strich ein selbstgefälliges Geschwafel.

Aber Aufführungen müssten doch sowieso von sich aus funktionieren, ohne Programmheft als Brücke – oder?

Das nehmen auch die Regisseure gern für sich in Anspruch, aber man muss schon den Stoff ein bisschen kennen, schließlich geht es auch um eine gewisse philosophische Dimension. Man will ja nicht Hollywood.

Als Haupttendenz bei der Klassikerbearbeitung haben Sie eine pessimistische Grundhaltung ausgemacht, die ihren Hintergrund in der Postmoderne beziehungsweise der Auflösung aller Utopien hätte. Gibt es wirklich nur noch „hoffnungsloses“ Theater?

Ja. Es wäre auch falsch, dem Publikum angesichts der Probleme der Zeit etwas anderes aufzudrängen.

Die Leute wollen das sehen?

Ja. Jan Bosses Hamburger „Faust“-Inszenierung ist fast schon ein Blockbuster, obwohl sie Faust als alten Sabbergreis beziehungsweise jungen Schnösel zeigt. Gott greift auch nicht mehr rettend ein.

Es gibt kein moralisches Handeln, das auf der Bühne belohnt wird?

Im Gegenteil: Es wird lächerlich gemacht. Insbesondere Schillers Idealismus reizt zur Ironisierung.

Wie sehen Sie den zunehmenden Medienaufwand auf der Bühne?

Der Einsatz von Video etwa wird immer dann problematisch, wenn er nur das doppelt, was ohnehin auf der Bühne zu sehen ist. In Bremen hat Thirza Bruncken Bronnens „Geburt der Jugend“ in einer MTV-Ästhetik inszeniert, die cool sein sollte, aber keine neue Dimension erschlossen hat. Oder nehmen wir den Musik- und Medieneinsatz bei „All inclusive“ und „Better Days“: Die Texte allein waren so schlecht, dass man sie nur so bringen konnte. Regisseur Lukas Langhoff hat das im Nachhinein selbst als den letzten Schrott bezeichnet.

Wie schätzen Sie die zwölf-jährige Pierwoß-Performance insgesamt ein?

Den wirtschaftlichen Auftritt sehe ich, in Gegensatz zu der in der taz häufig veröffentlichten Meinung, sehr kritisch. Es ist diese 68er-Mentalität des Handaufhaltens, das ständige Gejammere über die unzureichende Finanzausstattung. Zu Beginn seiner Intendanz hat Pierwoß das Theater in der Tat gerettet, aber dann ist er in einer beständigen Beißhaltung gegenüber der Politik verblieben, anstatt selbst Verantwortung zu übernehmen.

Und künstlerisch?

Wenn Pierwoß‘ letzte Spielzeit heute mit „Hoffmanns Erzählungen“ eröffnet, ist das schön für ihn, weil es das erste Stück seiner Bremer Intendanz war. Aber es ist auch Ausdruck einer eher nostalgischen denn konzeptionellen Haltung. Mit Pierwoß war alles machbar, von der „Kneipe zum dicken Klaus“ [im zwischengenutzten Musicaltheater] bis zu „Mode meets Theater“. Aber die Marke „Bremer Theater“ ist im Keller.

Finden Sie nicht, dass er bei der Auswahl der RegisseurInnen in der Regel eine gute Hand hat?

Schon. Außerdem war er sehr erfolgreich bei der Entdeckung von Schauspielern wie Gabriela Maria Schmeide oder Peter Pagel. Dass so viele von Bremen an das „Deutsche Theater“ nach Berlin wechseln konnten, ist ein eindeutiges Zeichen. Ich bin skeptisch, ob Pierwoß‘ Nachfolger Hans-Joachim Frey Erfolg hat, wenn er, wie angekündigt, Leute wie Peter Zadek oder Peter Stein nach Bremen holt. Natürlich haben auch Regisseure der älteren Generation noch etwas zu sagen – aber um konkurrenzfähig zu bleiben, braucht man die junge, intelligente Elite wie Jan Bosse oder Andreas Kriegenburg.