Zeitzeuge der Subkultur

Wer sich für die jüngste Geschichte des ukrainischen Lwiw aus der Perspektive eines Nonkonformisten interessiert, sollte sich den Stadtführungen von Alik Olisewitsch anschließen. Er ist der bekannteste Außenseiter der Stadt und hat viel zu erzählen

VON THOMAS GERLACH

Bart, wallendes Haar und ein Kreuz auf der Brust – Alik Olisewitsch würde man als Wanderprediger durchlassen, wären da nicht das T-Shirt mit dem Peace-Zeichen und das alte Klapprad, mit dem er in die Oper radelt. Wer mit Alik durch Lwiw, das ehemalige Lemberg, spaziert, kommt nicht weit. Er wird von einem Straßencafé aus gegrüßt, trifft einstige Hippies, palavert mit einstigen Gegnern, regimetreuen Journalisten oder alten Funktionären, oder er schäkert mit den Töchtern seiner alten Freunde. Die jungen Frauen sehen in Alik, was sie bei ihren Vätern nicht mehr erkennen: das Aufbegehren, den Eigenwillen, den Geist des Nonkonformismus – einfach das, was Alik zu dem gemacht hat, was er ist: der bekannteste Hippie von Lwiw.

Heute wird Alik gern als Zeitzeuge eingeladen, um über Subkultur und nonkonformes Leben in der Sowjetunion der 70er- und frühen 80er-Jahre zu erzählen. Was bei den Jugendlichen Kopfschütteln hervorruft, war damals der Kampf um Selbstbehauptung in der versteinerten Welt des Leonid Breschnew. Wer sich nicht in den Komsomol einfügte, in der Öffentlichkeit zu viel „dekadente“ westliche Musik hörte, lange Haare trug, bekam es schnell mit der Staatsgewalt zu tun. Studenten flogen unter dem Vorwurf von der Universität, „bourgeoise Nationalisten“ zu sein, andere wurden verdächtigt, antisowjetische Agitation zu betreiben, manche wurden gleich ins Gefängnis geworfen. Die Staatsmacht schnitt ihnen die Haare, verpflichtete sie zur Arbeit, fotografierte sie, nahm Fingerabdrücke. Doch letzten Endes war sie nahezu ohnmächtig – wie bei Aliks Musterung: Er trat mit Kriegsbemalung und wehendem Haar vor die Militärkommission. Die Offiziere hielten ihn für „wehrunwürdig“ und steckten Alik in die Psychiatrie. Nach vier Wochen war er wieder frei.

Bei Alik, 1958 in Lwiw geboren, hat alles in einem vormilitärischen Lager angefangen, wo der Zehnjährige auf ältere Schüler traf, die lange Haare hatten und Jeans trugen. Dort kauft er sich für drei Rubel seine ersten eigenen „Levi’s“. Die knöpfte ihm sein Vater umgehend wieder ab, um sie zu verbrennen. Er wollte seinem Sohn sein eignes Schicksal ersparen: Er saß zehn Jahre im Gefängnis. Lwiw war anders. Jedenfalls manchmal. Für den Kreml war es eine gefährliche Stadt, sie galt als politisch unsicher. Lwiw wurde so neben den baltischen Städten, allen voran Tallinn, sowie dem damaligen Leningrad eines der Zentren der Hippiebewegung. Man trampte durchs Land, sonnte sich am Ostseestrand oder auf der Krim, traf sich auf gemeinsamen Sessions. Eine der Bands waren die legendären „Wujki“ aus Lwiw.

Treffpunkte für Hippies gab es einige in Lwiw, etwa den „Heiligen Garten“. Unweit von der damaligen Gebietsparteizentrale, wo heute Antiquare stehen und ihre Bücher verkaufen, trafen sie sich und machten bis nach Mitternacht Musik. Alik schlug sich nach der Psychiatrie jahrelang als Aktmodell an der Kunstakademie durch, bis er rausflog. Das Opernhaus gab ihm so etwas wie politisches Asyl. Er fing dort in den 80er-Jahren als Beleuchter an und ist es heute noch.

Wenn man im Zuschauerraum sitzt, bedient er in der oberen linken Loge die Scheinwerfer, Abend für Abend. Natürlich ging Alik während der „Orangenen Revolution“ auf die Straße. Allerdings hat er sich nie den „Orangenen“ angeschlossen. Darauf angesprochen, winkt er ab. „Für einen Hippie undenkbar!“ Wer ihn treffen will, braucht nur in die Oper zu gehen, wo man für wenig Geld gute Aufführungen erleben kann. Vor der Vorstellung und in den Pausen läuft er mit offenem Haar durchs Foyer. Und was sein Äußeres angeht, war Alik tatsächlich Geistlicher – 1986 als Komparse in einem Film. Die Rolle des Rebellen wurde ihm nie angeboten, die hat er nur im richtigen Leben gespielt.

Alik Olisewitsch trifft man in der Oper bzw. nach ihm fragen am Künstlereingang links neben dem Haupteingang. Er steht für Führungen durch das alternative Lwiw zur Verfügung, spricht Ukrainisch, Russisch und Polnisch (+3 80 66-2 57 25 10).