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Archiv-Artikel

Russenpop und Konsumrausch

Wechselvolle Geschichte, neue Luxusmeilen, schwimmende Restaurants und einkaufen beim Direktvermarkter: Ternopil, Lwiw und Kiew – eine Reise in drei ukrainische Städte

Die Konsumader, der Kreschtschatyk, könnte überall in Europa seinDer direkte Weg vom Erzeuger zum Verbraucher hat Tradition

VON ANGELIKA BASDORF

„Hugo Boss“ steht auf der Plastiktüte, die allerdings nicht so wirkt, als ob darin erst gestern Designerware nach Hause getragen worden ist. In der Tat, die auf einer Mauer hockende Frau, die die Tragetasche vor sich abgestellt hat, verkauft daraus Pistazien. Viele Kunden hat sie nicht, denn es ist heiß in Ternopil, und die Sonntagsspaziergänger laben sich lieber beim Eisverkäufer oder an einem der zahlreichen Bierstände, die sich am idyllischen Ufer des gestauten Tschepem gegenseitig mit laut dröhnender Discomusik die Besucher streitig machen. Das Bier im Plastikbecher gibt es hier für zwei Hrywna (umgerechnet 30 Cent). Jenseits der gepflegten Parkanlagen bieten Restaurants im Stadtzentrum das Bier für den doppelten Preis an, dafür im Glas und am Tisch serviert.

Man sitzt umgeben von Blumenampeln und Geranienkästen. Die Speisekarten sind abwechslungsreich, trendy gekleidete junge Leute nippen an ihren Cocktails, an einem Ohr fast immer das Handy, Statussymbol Nr. 1 – nicht nur in der Ukraine. Auch hier im Restaurant übertönt der Russenpop aus den Lautsprechern die Gespräche. Ternopil, etwa 130 km östlich von Lemberg, heute Lwiw, hat 250.000 Einwohner. Die jetzige Universitätsstadt war einst Schauplatz eines der schlimmsten Massaker an Juden in Galizien. Hier fanden in den Kriegsjahren rund 200.000 Juden den Tod. Gedenktafeln erinnern an diese Pogrome. Sonst findet man nur wenige Spuren der Vergangenheit in der Stadt, sie wirkt aufgeräumt, freundlich, unspektakulär und ist für viele Ukrainer nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Lwiw, der wichtigsten Stadt der Westukraine. Dort ist die Vergangenheit allgegenwärtig.

Die wechselvolle Geschichte der Stadt Lwiw begann 1256. Sie war polnisch, bis 1772 die Österreicher kamen. Unter der Habsburger-Monarchie erlebte Lwiw seine Blütezeit, die noch heute beim Rundgang durch die Innenstadt fühlbar ist, als ginge man durch das Wien des 19. Jahrhunderts. Die Konservierung dieser Zeit brachte der Stadt einen Platz auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes ein. Ganz im Sinne dieser Tradition ist wohl auch auf dem Boulevard Swobody das „Café Wien“ entstanden. Während die Dachterrasse und der Kaffeegarten vor dem Gebäude dem Namen alle Ehre machen, ist die Inneneinrichtung im Parterre alles andere als gemütlich. Die einfachen Holztische und unbequemen Stühle zwingen den Besucher unweigerlich wieder ins Freie, weshalb diese Einkehradresse nur für die warme Jahreszeit ein Tipp ist. Anders ist es im Café Kupol (wul. Tschaikowskoho 37). Sowohl die liebevoll mit Flohmarkttrophäen geschmückte Terrasse als auch die wohnzimmerartig eingerichteten beiden Gasträume laden zum Verweilen ein. Die Kochkünste sind polnisch-kreativ, was die vielen gesammelten Emailleschilder in polnischer Sprache schon erahnen lassen.

Indes, die ehemaligen Türschilder von Barszczewskis Werkstatt und Dr. M. Haber zeugen von einem dunklen Kapitel Stadtgeschichte. Nachdem die Rote Armee das seit 1941 deutsche Lemberg erobert hatte, begann eine der größten Umsiedlungsaktionen der europäischen Geschichte, von der 80 Prozent der polnischen Lemberger betroffen waren. An ihrer statt kamen Russen nach Lemberg, ebenfalls Entwurzelte, die nichts wussten von den mitteleuropäischen Traditionen ihrer neuen Heimat, die sie mit anderem Leben füllten. Heute ist Lwiw noch immer auf der Suche nach der eigenen Identität.

Ganz anders die Aufbruchstimmung in Kiew, die fast jeder in der ukrainischen Hauptstadt ausstrahlt. „Die Menschen wollen nicht unbedingt, dass die Ukraine EU-Mitglied wird, aber sie wollen leben wie in der EU“, sagt Professor Irina Akimowa, Wirtschaftswissenschaftlerin und UNDP-Beauftragte. Und wirklich, gäbe es zwischen „McDonald’s“, „Zara“ und „New Yorker“ nicht die kyrillischen Schriftzeichen – die Konsumader der Stadt, der Kreschtschatyk, könnte überall in Europa sein. Aber wer hier einkaufen kann, wer hier die Tüten von „Esprit“ und „Benetton“ lässig am Handgelenk baumeln lässt, gehört zu den Reichen. Durchschnittsverdiener mit 200 Euro pro Monat gönnen sich auf der Prachtstraße höchstens einen Kwass, das Erfrischungsgetränk aus vergorenem Schwarzbrot und Wasser.

Sie gehören wahrscheinlich auch nicht zu den Käufern in der prächtigen Halle des bessarbaischen Marktes am oberen Ende des Kreschtschatyks, die keine Wünsche hinsichtlich der frischen Obst-, Gemüse, Fleisch- und Fischauswahl offen lässt. Üblich ist es ohnehin eher, sich bei den am Straßenrand sitzenden Bauersfrauen mit dem Notwendigen zu versorgen, mit Produkten aus den heimischen Gärten: Möhren, Kartoffeln, Salat, rote Beete und Äpfeln. „Der direkte Weg vom Erzeuger zum Verbraucher hat Tradition und wird als natürlich empfunden“, erläutert Taras Wozniak, Chefredakteur der Kulturzeitschrift Ji. Mit Armut habe das nichts zu tun. „Wir leben eben auf einem anderen Niveau.“

Martin Wulle, „Managing Director“ von Beiersdorf, ist begeistert von den Möglichkeiten, die ihm Kiew bietet: Die Dnjepr-Strände und schwimmenden Restaurants zum Beispiel, aber auch das kulturelle Angebot, allem voran die Oper, genießt er in vollen Zügen.

Wegen seiner vielen Kirchen und Klöster und seiner Bedeutung für die orthodoxe Christenheit wird Kiew seit dem Mittelalter als Jerusalem des Nordens bezeichnet. Kiew hat drei Millionen Einwohner. Es ist, wie Rom, auf sieben Hügeln gebaut. Und es ist eine grüne Stadt. Das gilt aber nur für die „richtige“ Dnjepr-Seite. Auf der anderen, der linken, prägen Plattenbauten das Bild, die nichts gemeinsam haben mit den prächtigen Neorenaissance-Bauten in der Oberen Stadt, den restaurierten Jugendstilhäusern in Podil und dem Zuckerbäckerstil in der Innenstadt. Doch langsam entsteht auch auf der armen linken Seite neuer Chic: Erste Apartmenttürme wachsen in den Himmel.

Die Hauptstadt der Ukraine ist ein Schmelztiegel. Das typische Beispiel für einen echten Kiewer ist Wladimir Besowski. Sein Vater ist Weißrusse, seine Mutter ist Polin, er wurde in Kiew geboren und hat es seit seiner Geburt nicht verlassen. Der Ingenieur und Hobbyhistoriker liebt seine Stadt und bringt ihre Schönheit den Touristen nahe. Er spricht natürlich Russisch, Polnisch und Ukrainisch, aber er denkt russisch. In seinem Kopf hat sich die Lösung der Ukraine von Russland noch nicht wirklich vollzogen. Kiew sei russischer als Moskau, findet der 53-Jährige, und daher die heimliche Hauptstadt Russlands. Auf die Frage, ob die Moskauer das denn wüssten, hat er nur eine schmunzelnde Antwort: „Sie ahnen es.“