: „Marx gewann immer 5:0“
Kritiker der kulturellen Überheblichkeit: Der Soziologe Wolf Lepenies erhält den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ein Gespräch über gescheiterte Moralisten, die Einflussmöglichkeiten von Intellektuellen auf das politische Tagesgeschäft und das dogmatische Linkssein der 68er
INTERVIEW JÖRG MAGENAU
taz: Herr Lepenies, Ihr neues Buch trägt die Großbegriffe „Kultur“ und „Politik“ im Titel. Sind sie als Gegensatz zu verstehen oder hat das „und“ in der Mitte eher verbindende Funktion?
Wolf Lepenies: Kultur und Politik gehören zusammen, sind Teile unseres Gemeinschaftslebens, die man nicht auseinanderdividieren kann. Mein Buch ist Darstellung und Kritik deutscher Kulturüberheblichkeit. Damit ist im Übrigen nicht gemeint, dass die Kultur nicht „unverschämt“ sein dürfe in dem Sinne, dass sie Unmögliches und die Verwirklichung der Utopie verlangt. Kunst und Kultur müssen das tun. Wenn sie sich aber für die bessere Politik halten, ist dies ein Selbstmissverständnis, das in der deutschen Geschichte fatale Folgen hatte.
Sie würden also für die beratende Funktion der Intellektuellen plädieren, wie sie derzeit häufig eingeklagt wird?
Ich habe das Wort „Politikberatung“ nie benutzt. Politikberatung“ kann man sich nicht zum Ziel setzen. Aber es verschafft dem Wissenschaftler natürlich Befriedigung, wenn die Politik sich für seine Arbeit interessiert und um Rat fragt.
Sie gehen in Ihrer Arbeit am Wissenschaftskolleg aber doch davon aus, dass man mit Wissenschaft und Kultur auch politisch etwas bewirken kann?
1995 bereits wurde am Wissenschaftskolleg der Schwerpunkt „Moderne und Islam“ begründet. Nach dem 11. September 2001 kamen viele und lobten, dass wir uns mit dem Islam beschäftigten. Aber das haben wir bereits sechs Jahre vor 9/11 getan, nicht sechs Wochen danach. Damit war ursprünglich keine direkte politische Zielsetzung verbunden. Im Laufe der Jahre hat der Schwerpunkt „Moderne und Islam“ – jetzt heißt er „Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa“ – aber auch politische Folgen gehabt.
Thomas Mann ist – neben Goethe – die zentrale Figur in Ihrem Buch. Sie befassen sich mit Gottfried Benn, beziehen sich auf Norbert Elias und Helmuth Plessner. Je näher Sie der Gegenwart kommen, umso mehr dünnen die Namen aus. Hat das damit zu tun, dass es Repräsentanten deutscher Kultur, aber auch die klassischen Intellektuellenfiguren heute nicht mehr gibt?
Immerhin spielt am Schluss des Buchs Günter Grass eine große Rolle. Aber Ihre Beobachtung ist richtig. Was Sie Verdünnung nennen, hat damit zu tun, dass das Problem der Kulturüberheblichkeit, mit dem ich mich beschäftige, mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten weitgehend verschwindet. Wenn heute noch jemand aufträte und im Brustton der Überzeugung behaupten würde, die Deutschen seien das Kulturvolk par excellence und die westlichen Nachbarn besäßen nichts als „Zivilisation“ – er würde sich lächerlich machen. Als Günter Grass nach 1989 den Vorschlag machte, auf einen neuen deutschen Einheitsstaat zu verzichten und sich mit der Einheit der Kulturnation zu begnügen, habe ich diesen Vorschlag politisch für falsch gehalten und sage dies auch in meinem Buch. Ich kritisiere aber Grass mit einem Gefühl des Respekts. Grass hat vor 1989 an der Idee der Kulturnation in eindrucksvoller Weise festgehalten – nicht zuletzt gegenüber kulturpolitischen Anmaßungen der DDR-Nomenklatura. Das darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen.
Hat sich an der Bedeutung von Günter Grass und Ihrer Haltung ihm gegenüber durch sein Bekenntnis, als 17-Jähriger bei der Waffen-SS gewesen zu sein, etwas geändert?
Die literarische Lebensleistung bleibt für mich unverändert. Aber natürlich lese auch ich jetzt manche seiner politischen Texte in einem anderen Licht. Als moralische Instanz hat Grass gelitten, ohne Zweifel. An der gegenwärtigen Debatte ärgert mich der selbstgefällige Ton vieler Kritiker. Sie verhalten sich so rigide, wie sie Grass vorwerfen, dass er sich nie hätte verhalten dürfen.
Sie beschreiben das Jahr 1989 und den Umbruch in Osteuropa als letzte Blütezeit der Intellektuellen, die damals sogar, wie Václav Havel, in Regierungsämter gewählt wurden. Warum ist davon nichts geblieben?
Ich habe nach 1989 aufgrund meiner Osteuropa-Erfahrungen die Vermutung geäußert, es werde demnächst in Europa zwei Gruppen von Intellektuellen geben, die zum Teil auch in politische Ämter hineinwachsen würden. Ich nannte sie – im Westen – die „Experten“ und – im Osten – die „Moralisten“. Ich glaubte, die „Moralisten“ würden viel länger politisch aktiv und wirksam bleiben, als es dann tatsächlich der Fall war. Dass die „Moralisten“, mit Ausnahmen, so schnell wieder von der politischen Bühne, auf der sie Hauptrollen gespielt hatten, verschwanden, hat etwas damit zu tun, was Max Weber „die Veralltäglichung des Charismas“ genannt hat. Die intellektuellen Helden konnten sich in der Regel nur für eine Legislaturperiode in der Politik halten. Dann setzte Routine ein. Mit der „Normalität“ kehrten vielerorts auch die Kommunisten, wenn auch in Verkleidung und mit frischen Parteinamen, an die Macht zurück. Man musste pragmatisch werden. Aus den „Helden“ wurden „Händler“. Damit war die Zeit der Moralisten vorbei. Die Klugen unter ihnen haben das schnell erkannt.
An wen denken Sie dabei?
Dazu gehört mein Freund Andrei Plesu, der als Außenminister Rumäniens noch einmal in die Politik zurückkehrte, aber gleich sagte, ich mache das für zwei Jahre, versuche Impulse zu geben, aber ich weiß, dass ich das auf Dauer nicht machen kann und nicht machen will.
In Ihrem Buch orientieren Sie sich an den großen Umbrüchen 1918, 1933, 1945, 1989. Müsste nicht das Jahr 2001 auch eine Rolle spielen? Warum haben Sie den „Zusammenprall“ der Kulturen – Westen und Islam – weggelassen?
Weil ich mich mit diesen Problemen in meiner wissenschaftlichen Praxis beschäftigt hatte. Der Aufbau der Institute in Mittel- und Osteuropa, die Einrichtung des Forschungsschwerpunkts „Moderne und Islam“ gehören dazu. Darüber brauchte ich kein Buch mehr zu schreiben.
Eine andere Zäsur, die kaum ein Rolle spielt, ist das Jahr 1968. Dabei wäre hier doch einiges zu finden. Der Kulturbegriff hat sich damals massiv verändert und politisiert. Warum kommt das bei Ihnen kaum vor?
Ich hätte dann über eigene Erfahrungen sprechen müssen, darüber, was „1968“ für mich an der FU Berlin bedeutete. Ich habe das an anderer Stelle getan. Im Übrigen glaube ich, dass das Jahr 1968 für das Problem der deutschen Kulturüberheblichkeit gegenüber der Politik keine wirkliche Zäsur bedeutet.
Sie sind Jahrgang 1941, haben sich in den 60er-Jahren für das damals sehr angesagte Fach Soziologie entschieden. Aber Ihre Dissertation über „Melancholie und Gesellschaft“ von 1969 behandelte nicht gerade ein damaliges Modethema. Wie kamen Sie zur Soziologe?
Eher zufällig. Ich habe in München zu studieren begonnen. Einer meiner ersten akademischen Lehrer war Eric Voegelin, der Politikwissenschaftler, der eine höchst eindrucksvolle Vorlesung über amerikanische Verfassung und Verfassungswirklichkeit hielt. Ich habe ein halbes Dutzend Fächer angefangen zu studieren – das konnte man sich damals noch leisten – und bin dann bei der Soziologie hängen geblieben. Warum weiß ich nicht. Vielleicht hatte dies auch mit R. M. Lepsius zu tun, der einer meiner akademischen Lehrer war und mich beeindruckte. Ich hätte aber auch Publizistik studieren können. Da war Peter Glotz mein erster Lehrer. Den fand ich genauso beeindruckend.
Und wie ist Ihr Verhältnis zur 68er-Generation?
Gespalten. Das hat damit zu tun, dass ich in dieser Zeit Student, Assistent und Professor war. Ich habe dadurch zwar nicht völlig meine Perspektiven gewechselt, die Dinge mit der Zeit aber doch anders wahrgenommen. Von einem skeptischen Enthusiasmus ging das bis zu entschiedener Enttäuschung. Das hing nicht zuletzt mit Entwicklungen an der FU Berlin am Institut für Soziologie zusammen, wo ich eine zunehmende Verhärtung und Abschottung gegenüber kritischen Fragen wahrnahm. Mich störte zum Beispiel, dass in der Auseinandersetzung zwischen Marx und Max Weber das Ergebnis immer 5:0 zu lauten hatte und Max Weber noch nicht einmal die Chance zu einem Unentschieden bekam. Das hat mich der 68er-Bewegung entfremdet, deren Bedeutung ich aber nicht unterschätze. Damals haben sich in Deutschland Veränderungen im Verhältnis zu unbefragter Autorität und legitimationsscheuer Tradition ergeben, die bis heute wichtig geblieben sind.
Sie haben gesagt, dass „Kultur und Politik“ ein historisches Buch ist, dessen Problemstellung sich nach 1989 erledigt hat. Aber mangelt es der Politik heute nicht substanziell an einer kulturellen Dimension, an Prinzipien und Maximen, die das parteipolitisch-taktische Tagesgeschäft überschreiten?
Es gibt Versuche, hier korrigierend einzugreifen. In Berlin existiert eine Initiative, die auf Volker Hassemer zurückgeht und der ich auch angehöre: „Europa eine Seele geben“. Es ist der Versuch, der Kultur in Europa eine stärkere Präsenz zu verschaffen – nicht zuletzt in Brüssel. Ich habe für diese Bemühungen eine große Sympathie. Aber auch da muss man aufpassen, dass die Kultur nicht in eine Kompensationsfalle läuft. Die entscheidenden europäischen Probleme sind politische Probleme, und sie müssen politisch gelöst werden. Die Kultur kann und soll nicht glauben, hier als Politikersatz kompensierend eingreifen zu können. Das gilt beispielsweise für die Undurchsichtigkeit vieler Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäischen Union und für die anhaltende Bedeutungsschwäche des Europäischen Parlaments. Die Kultur muss aber eine entscheidende Rolle im Versuch spielen, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen.
Wie könnte das aussehen?
Was wir nötig haben, sind europäische Parteien. Parteien, die sich nicht national definieren, sondern europäisch. Es würde ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa entstehen, wenn man beispielsweise sagen könnte: Ich habe eine Partei gewählt, die mein Freund in Frankreich auch gewählt hat. Im Moment definieren wir uns da noch ausschließlich national. Die Kultur ist schon viel weiter. Sie ist europäischer als die Politik. Vielleicht könnte die Politik hier von der Kultur etwas lernen.