Erleben und erleiden

RITUALE Die Fotografin Giorgia Fiorio will mit ihrem Bildprojekt zeigen, dass alle religiösen Traditionen gemeinsamen Ursprungs sind

Einige Riten kennt man bereits aus Boulevardmeldungen, wie das Lianenspringen auf der Pentecost-Insel im Pazifik, das als Extremsport Bungee populär wurde, dessen spiritueller Charakter aber dabei weitgehend verloren ging

VON DAMIAN ZIMMERMANN

Die Italienerin Giorgia Fiorio ist keine Frau für kleine, schnelle Serien. Ihre fotografischen Projekte legt sie fast immer auf mehrere Jahre an. So suchte sie nach ihrer Abschlussarbeit am International Center of Photography in New York 1990, die von Boxern handelte, nach weiteren Archetypen und begab sich für „Men“ sechs Jahre lang immer wieder in geschlossene Männerwelten – in Kohlegruben und Gefangenenlager, auf U-Boote, Fischkutter und in die Stierkampfarena. Sie fotografierte Kampftaucher aus Eckernförde in fast homoerotischen Posen unter Wasser und das Fallschirmspringerregiment der französischen Fremdenlegion bei einer Kampfübung in der morbiden, poetischen Haltung einer Ophelia.

Ihre Männer sind häufig einsam und auf sich alleine gestellt, in der Gruppe jedoch protzen sie nur so vor Kraft und Männlichkeit – was merkwürdig anachronistisch anmutet, wenn man bedenkt, dass sich junge Männer heutzutage Beine und Brust rasieren und zu Hause im Sitzen pinkeln müssen. 1999 entschloss sich Fiorio dann für ein neues Projekt, dessen Ergebnisse nun – also elf Jahre später – im Verlag Edition Braus als Buch erschienen sind. Unter dem Titel „Rituale“ hat sie die Bilder von mehr als drei Dutzend Reisen in der ganzen Welt zusammengetragen. Die heute 43-Jährige war auf der Suche nach religiösen Riten – von den Ufern des Ganges und den Klöstern in Polen bis zu den Tempelanlagen in Kambodscha und den Meditationszentren in Myanmar. Ihre Bilder zeigen Menschen, die ihren Glauben im wahrsten Sinne des Wortes leben – und häufig auch erleiden. Fiorio macht diesen Glauben in ihren ruhigen und unaufdringlichen, aber deshalb niemals langweiligen oder beliebigen Schwarzweißbildern sicht- und manchmal sogar spürbar, denn fast immer geht die spirituelle Verbindung mit schweren körperlichen Anstrengungen einher: Menschen lassen sich kreuzigen, laufen durch Wasserfälle, stürzen sich von Gerüsten herunter, machen komplizierte Yoga-Übungen oder versetzen sich in Trance und Ekstase. Fiorios Buch ist ein religiöses Kaleidoskop, in dem es ständig etwas zu bestaunen und zu entdecken gibt – sei es der buddhistische Mönch, der in einer unwirtlichen Steinlandschaft mit einem Tiger spazieren geht und ihm dabei liebevoll den Arm um die Hüfte legt, oder die merkwürdig verformte Architektur des Kondortempels in Peru. Einige Riten kennt man bereits aus Boulevardmeldungen wie das blutige Reinigungsfest Jia Chai in Thailand, bei dem sich die Teilnehmer metallische Gegenstände durch verschiedene Körperteile stecken, oder das Lianenspringen auf der Pentecost-Insel im Pazifik, das zwar als Extremsport Bungee populär wurde, dessen spiritueller Charakter dabei jedoch weitgehend verloren gegangen ist.

Doch während Fernsehbilder bunte, schrille Filmchen über diese Absonderlichkeiten liefern, beweist Fiorio viel Fingerspitzengefühl und zeigt stille, mitfühlende Aufnahmen mit einer hohen ästhetischen Dichte. Fiorio geht es nicht um die Sensation, sondern um das Gefühl, dass all diese weltweiten Riten und Traditionen einen gemeinsamen Ursprung und ein gemeinsames Ziel haben – ganz egal, wie weit die Kulturen auch voneinander entfernt leben. Ein großartiges Projekt, das nicht von ungefähr unter der Schirmherrschaft der Unesco steht.

■ Giorgia Fiorio: „Rituale“. Edition Braus, 232 Seiten, 138 Fotografien, 49,90 Euro