: Als die Welt stehen blieb
HOCHSPANNUNG Vom Blitz getroffen zu werden gilt als unwahrscheinlich. Einer jungen Frau passierte es dennoch – es folgten Schmerz, Depressionen und Angst
■ Tun: Wenn Blitz und Donner im Abstand von zehn Sekunden aufeinanderfolgen, sollte man sich in Sicherheit bringen: in ein Gebäude, am besten mit Blitzschutzanlage, oder in einen Wald – jedoch mit Abstand zu den Bäumen von mindestens drei Metern, in ein Auto. Schlägt der Blitz ins Auto ein, wird der Strom durch das Metallgehäuse des Autos in die Erde geleitet. Durch den sogenannten Faradayschen Käfig ist man geschützt. Ist nichts davon in der Nähe: auf den trockenen Boden hocken, Füße zusammen und die Arme um die Beine schlingen.
■ Lassen: Der Blitz sucht sich immer den höchsten Punkt: allein stehende Bäumen, Waldrand und Hügel meiden. In der Gruppe: mindestens drei Meter Abstand voneinander halten. Weg von Metallzäunen! Nicht flach auf den Boden legen: Dadurch könnte mehr vom Blitzstrom über den Boden in den Körper fließen. Raus aus Schwimmbad oder See: Wasser leitet besonders gut.
■ Fakten: Zwischen Wolken und Erdoberfläche können bei Gewitter Spannungen von mehr als 100.000.000 Volt entstehen, beim Blitzschlag entlädt sie sich. Der Blitzkanal in der Luft wird bis zu 30.000 Grad Celsius heiß. Die Luft dehnt sich dabei explosionsartig aus, es donnert. Blitze können eine Stromstärke von 100.000 Ampere erreichen. Das Spektakel dauert im Schnitt 0,2 Sekunden.
■ Rekord: Roy Sullivan, ein Parkwächter aus Virginia, wurde sieben Mal vom Blitz getroffen. 1983 nahm er sich das Leben.
■ Netz: Beim europäischen Blitzerkennungs-Netzwerk kann man die Blitze, die gerade europaweit einschlagen, in Echtzeit beobachten: euclid.org
■ Konferenz: Die nächste Konferenz der Blitzschlagüberlegenden ist am 10. 11. in Lynchburg, Virginia, USA: lightning-strike.org
VON MARIA ROSSBAUER
Irgendwie hat Maria es geahnt. Sie hat es sogar gesagt, zu ihrer Freundin Franziska, die mit dabei war: „Mir gefällt das hier nicht, das Gewitter ist schon so nah.“ Die Freundinnen wollten nur kurz spazieren gehen, die Sonne schien an diesem Julitag vor sieben Jahren. Beide waren damals zwanzig Jahre alt. Von Marias Elternhaus aus, einem Einödhof in Oberbayern, sind die beiden die paar Schritte zum Wald gelaufen. Sie haben sich verquatscht, sind dann doch eine Stunde lang spaziert. Dann sahen sie es brodeln in der Ferne.
Der Himmel wurde grau, es fing plötzlich an, wie aus Kübeln zu regnen. Die Blitze folgten immer dichter auf den Donnerschlag. Maria und Franziska drehten um, schnell nach Hause. Ihnen war unheimlich. „Es ist doch so unwahrscheinlich vom Blitz getroffen zu werden“, sagte Franziska. „Da stirbt man noch eher in einem Flugzeugabsturz.“ Drei Schritte sind die Mädchen noch weitergekommen.
Plötzlich wurde es laut. Noch nie hatten sie etwas vergleichbares gehört. Mit einem Schlag tat beiden der Kopf höllisch weh, fühlte sich an, als würde er zerreißen. Sie mussten vor Schmerz in die Hocke gehen, pressten die Augen zusammen. Für eine Sekunde blieb die Welt stehen.
Vorbei war es lange nicht
Dann war es vorbei. Die Mädchen waren fassungslos. Sie wussten sofort, was passiert war: „Oh Gott, wir sind gerade vom Blitz getroffen worden.“
500 bis 600 Menschen werden jedes Jahr in den USA vom Blitz getroffen. In Deutschland gibt es dazu keine offiziellen Schätzungen, auf die Bevölkerung umgerechnet dürfte es bis zu 150 Menschen im Jahr passieren. Jeder Zehnte stirbt daran.
Nach einem Schockmoment rannten Maria und Franziska los. Wie schnell, können sie nicht mehr sagen, sie waren wie im Delirium. Zu Hause in der Küche kamen sie zu sich. Und fingen plötzlich an zu lachen. Über die skurrile Situation, gerade noch darüber zu sprechen, wie unwahrscheinlich es doch sei – und dann tatsächlich vom Blitz getroffen zu werden. Sie lachten und lachten. Dann riefen sie Franziskas Bruder an. Er ist Rettungssanitäter, wusste, wie gefährlich ein Blitzschlag sein kann. Er drängte die beiden, sofort den Arzt anzurufen.
Es gibt fünf verschiedene Arten, von einem Blitz getroffen zu werden: Durch einen direkten Treffer, der Blitz trifft dabei in den Kopf oder in die Schultern, und tritt über die Füße wieder aus. Durch Kontakt mit einem Objekt, in das der Blitz einschlägt. Zum Beispiel einen Golfschläger, den man in der Hand hält. Durch einen Überschlag, hierbei trifft der Blitz einen Baum oder einen Strommasten in der Nähe eines Menschen. Teile der Energie des Blitzes können dabei übergehen. Beim Blitzschritteffekt kann ein Mensch, der bis zu 200 Meter von einem Blitzschlag entfernt ist, getroffen werden – wenn er mit gespreizten Beinen steht oder gerade geht. Der Strom kann dann über den Boden durch ein Bein in den Körper hinein- und über das andere wieder hinausfließen. Und durch den Leitungseffekt, der kilometerweit entfernt in ein Elektrokabel einschlägt – wenn man sich zum Beispiel im selben Moment die Haare föhnt.
Die Sanitäter kamen, nahmen Maria und Franziska mit ins Krankenhaus. Eine Nacht mussten die beiden zur Beobachtung dort bleiben. Die Ärzte wollten sichergehen, dass die Mädchen keine Herzrhythmusstörungen haben. Sie konnten nichts feststellen, nicht einmal Verbrennungen. Nach dieser Nacht durften die beiden nach Hause. Doch vorbei war es für sie noch lange nicht.
Verbrennungen und Herzrhythmusstörungen sind die häufigsten akuten Blitzschäden, sagt Ingo Kleiter, Neurologe der Universitätsklinik Regensburg. Er ist einer der wenigen Blitzforscher und -mediziner in Deutschland. Ein Blitzeinschlag kann die elektrische Steuerung des Herzens durcheinanderbringen. Das kann zu einem Herzstillstand oder zu Herzflattern führen – die häufigsten Todesursachen bei Blitzschlagverletzungen. In den seltensten Fällen bekommen Getroffene die geballte Kraft eines Blitzes ab: Blitze können bis zu 30.000 Grad Celsius heiß werden, also fünfmal so heiß wie die Oberfläche der Sonne. Sie erreichen eine Stromstärke von bis zu 100.000 Ampere.
Am nächsten Tag hatte Maria nur noch Schmerzen. Einen Monat lang. Im Kopf, in den Beinen, überall im ganzen Körper. Jeden Tag nahm sie fünf Schmerztabletten. Geholfen haben sie nicht. Sie hatte keine Energie mehr, lag wochenlang nur im Bett. Doch schlafen konnte sie auch nicht. Maria ging zu verschiedenen Ärzten, machte alle möglichen Tests. Die Ärzte fanden nichts, meinten, sie müsse gesund sein. Keiner konnte ihr helfen.
Etwa die Hälfte aller Menschen, die vom Blitz getroffen wurden, tragen Schäden für immer davon. Am häufigsten sind Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen und Angstreaktionen, jedes Mal, wenn ein Gewitter aufzieht. Und Depressionen. Woher die Depressionen kommen, weiß niemand so genau. Der Blitzforscher Kleiter vermutet, dass sowohl das traumatische Ereignis selbst eine Rolle spielen könnte als auch die Schäden, die der Blitz in den Nervenzellen anrichtet.
Nach einem Monat ging Maria zu einem Heilpraktiker. Der erzählte ihr, dass ihr Energiehaushalt durcheinandergekommen sei. Als Therapie empfahl er, jeden Tag ausgiebig zu frühstücken. Maria hielt das für lächerlich, konnte sich zunächst nicht vorstellen, dass das helfen sollte, frühstückte aber dennoch. Tatsächlich ging es ihr langsam besser, sie erholte sich. Doch das Ereignis und die Zeit danach wecken in Maria noch immer schreckliche Erinnerungen. Sie will das Thema abhaken, am liebsten nicht mehr darüber sprechen, nicht mehr danach gefragt werden. Deshalb will sie auch ihren vollen Namen nicht nennen.
Rätselhafte Schmerzen
In den USA gibt es jährlich eine Weltkonferenz der Blitzschlagüberlebenden. In Deutschland gibt es so etwas nicht, weil es hier vergleichsweise wenige Opfer gibt. Jedes Jahr treffen sich dort Menschen, die vom Blitz getroffen wurden, und tauschen ihre Erfahrungen aus. Die meisten Betroffenen haben seit dem Ereignis mit rätselhaften Schmerzen und Erscheinungen zu kämpfen, mit Panikattacken und Depressionen.
Auch Franziska möchte nicht ins Rampenlicht, auch sie will ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie hatte großes Glück: Sie hatte keine Schmerzen, keinerlei körperliche Auswirkungen von dem Blitzschlag. Doch sie hat inzwischen alles über die Menschen gelesen, die auch vom Blitz getroffen wurden, weiß, wie weit Blitze leiten, wie viel Kraft sie haben können, wo sie am gefährlichsten sind. Wenn Franziska am See ist und ein Gewitter zieht auf, stellt sie sich an den Rand des Wassers, und redet so lange energisch auf die Badenden ein, bis sie das Wasser verlassen. Sie weiß, wie man sich bei Gewitter verhalten muss. Noch einmal wird ihr das nicht passieren.